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Bei Fragen wenden Sie sich bit te an
– und wenn, dann nur auf den höheren
Ebenen. Grund dafür sind Konflikte mit
den Arbeitsschutzgesetzen vieler Län-
der sowie der EU-Arbeitszeitrichtlinie
2003/88/EG, die die maximale wöchent-
liche Arbeitszeit, Pausenzeiten, Nacht-
arbeit und Mindesturlaub reguliert.
In Deutschland etwa kommen bisher
nur leitende Angestellte in den Genuss
von Arbeitszeitfreiheit, da diese nicht
dem Arbeitsschutzgesetz unterliegen.
Lediglich zwei Prozent der abhängig
Beschäftigten in Deutschland verfügten
laut Statistischem Bundesamt im Jahr
2010 über eine vollständig flexible Ar-
beitszeitwahl, wohingegen mehr als 58
Prozent eine starre Arbeitszeitregelung
hatten – obwohl flexible Arbeitszeiten in
den diversen Arbeitgeberwahlstudien zu
den zentralen Entscheidungskriterien
von Arbeitnehmern zählen.
Bei der praktischen Umsetzung von
Rowe können die wissenschaftlichen
Erkenntnisse helfen, die es bereits zu
Mehrwert und potenziellen Risiken des
Modells gibt. Welche Auswirkungen
Rowe demzufolge auf die Organisation
und das Individuum hat, wird im Folgen-
den dargestellt. Die Diskussion stützt
sich auf empirische Ergebnisse aus
den USA und Deutschland sowie Inter-
views mit drei Experten: Jodi Thompson,
Mit-Initiatorin des Rowe-Modells beim
US-Elektronikkonzern Best Buy und
Mitbegründerin eines Beratungsunter-
nehmens mit Schwerpunkt Rowe, Hilde
Wagner, Ressortleiterin Tarifpolitik beim
Vorstand der IGMetall, und Nick Kratzer
vom Institut für Sozialwissenschaftliche
Forschung (ISF) München.
Auswirkungen auf die Organisation
Auf der Organisationsebene lassen sich
folgende Auswirkungen feststellen.
Mitarbeiterbindung: In einer Rowe-
Organisation steigt die Mitarbeiterbin-
dung, während die freiwillige Fluk-
tuation sowie der Wechselwille der
Mitarbeiter sinkt. Eine Studie unter 775
Mitarbeitern bei Best Buy in den USA
zeigte etwa, dass sich nach der Einfüh-
rung von Rowe die Fluktuation um 46
Prozent reduzierte. In den Abteilungen
mit Arbeitszeitfreiheit lag die Fluktuati-
on bei sechs Prozent, in den anderen bei
elf Prozent – unabhängig von Faktoren
wie Alter, Geschlecht und Hierachieebe-
ne. Die gesunkene Fluktuation bedeutet
zudem niedrigere Personalkosten, da
weniger Mitarbeiter neu eingestellt und
eingearbeitet werden müssen.
Mitarbeiterleistung und Produktivi-
tät: Die Studien legen auch nahe, dass
in einem Rowe-Umfeld Präsentismus
abnimmt. Da Arbeitszeit nicht erfasst
wird und die Mitarbeiter frei darüber
verfügen können, fühlen sich kranke
Mitarbeiter weniger gezwungen, eine
bestimmte Anzahl Arbeitsstunden zu
verrichten; sie können also ihre Ar-
beitsgeschwindigkeit besser anpassen.
So vermindern sich auch die negativen
Auswirkungen von Präsentismus, wie
Kosten durch verhinderte Produktivität.
Die drei befragten Experten sind sich
zudem einig, dass durch Arbeitszeitfrei-
heit nicht nur die Produktivität steigt,
sondern die Arbeit dadurch auch effi-
zienter wird. Zeitverschwendung und
überflüssige Arbeiten nehmen ab, wenn
die Mitarbeiter selbst ihre Zeit kontrol-
lieren und sich direkt darauf ausrichten,
ihre Arbeit zu erledigen. So finden weni-
ger unproduktive Meetings statt. Zudem
nimmt die Verarbeitungszeit ab.
Die Daten offenbaren jedoch auch ein
potenzielles Risiko von Rowe: Dadurch,
dass Arbeitszeit als Leistungsindikator
ausfällt, wird es schwieriger, die Arbeits-
belastung zu planen und Kosten zu kal-
kulieren. Zudem, glauben Wagner und
Kratzer, könnte Arbeitszeitfreiheit die
Mitarbeiter nicht nur zu mehr Leistung
MERKMALE VON ARBEITSZEITFREIHEIT
WEG VON:
HIN ZU:
Regulierung
Deregulierung
Erfassung von Arbeitszeit, die im Arbeitsvertrag
festgelegt ist
keine Arbeitszeiterfassung; keine vertragliche
Vereinbarung von Arbeitszeit
Input-Orientierung
Ergebnis-Orientierung
Arbeitszeit dient als Leistungsmesser; Fokus
auf der Zeit, die bei der Arbeit verbracht wird;
Sichtbarkeit; Verfügbarkeit als Beweis guter
Arbeit
Fokus auf den Stellenanforderungen und ter-
mingerechtes Erreichen der vorab festgelegten
Resultate (indirekte Kontrolle)
Definieren der spezifischen Art des Jobs und der
Erwartungen
Meetings als regulärer Bestandteil der Arbeits-
routine
Meetings werden nur abgehalten, wenn sie not-
wendig sind (geringwertige Arbeit vermeiden)
Vertrauen auf direktem Austausch
Kommunikation über verschiedene Kanäle, das
heißt verschiedene Methoden der virtuellen
und transparenten Kommunikation
Externes Zeit-Management
Arbeitszeitsouveränität
Vorgesetzter gibt Arbeitszeit und Zeitpläne vor
Mitarbeiter und Team sind verantwortlich für
Arbeitszeit und Zeitpläne
Flexible Arbeitszeitmodelle werden zwischen
Mitarbeiter und Vorgesetztem verhandelt
Flexibilität ist die Norm, das heißt Teammit-
glieder bilden sich untereinander weiter, um
sich gegenseitig vertreten zu können, und
verantworten Zeitpläne
Anwesenheit ist auch dann erfordert, wenn die
Arbeitsanforderungen erfüllt sind
Arbeitszeit und -pläne werden maßgeschnei-
dert, um die Ziele zu erreichen
Versuche, die Arbeitszeit zu flexibilisieren,
beruhen auf individuellen Vereinbarungen mit
ausgewählten Mitarbeitern
Kollektive Vereinbarungen setzen einen Wandel
in der Organisationskultur voraus
QUELLE: ANDRESEN (2009) UND MOEN ET AL . (2009)
Der Weg hin zu Arbeitszeitfreiheit führt weg von Regulierung, Input-Orientierung und
externer Kontrolle. Das Chart zeigt, was dies für die Arbeitspraxis bedeutet.