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RECHT
_TARIFEINHEIT
personalmagazin 10 / 14
Bei Fragen wenden Sie sich bit te an
schwächen und so die Kampfgewichte
einseitig zugunsten der Arbeitgeber-
seite verlagern. Auch eine Zwangssyn-
chronisation der Tariflaufzeiten würde
nicht weiterhelfen. Es käme dennoch
zur Verdrängung des Minderheitenta-
rifvertrags, wenn beide Gewerkschaf-
ten gleichzeitig und aufeinander abge-
stimmt verhandeln, solange sie keinen
gemeinsamen Tarifvertrag anstreben.
Der Kompromiss im Koalitionsvertrag
ist damit ein Formelkompromiss, der
die entscheidenden Fragen offen lässt.
personalmagazin:
Was wären die entschei-
denden Fragen? Wo liegen die Probleme?
Thüsing:
Verfassungsrechtlich ist das
alles recht dünnes Eis. Man darf den
Spartengewerkschaften durch neue Ge-
setzgebung nicht die Luft zum Atmen
nehmen. Auch sie genießen den Schutz
der Koalitionsfreiheit und haben daher
bereits mit einer Klage in Karlsruhe ge-
droht. Zwar dient die Tarifeinheit auch
dem Schutz der Tarifautonomie, denn sie
stärkt die Funktionsfähigkeit des Tarif-
vertragssystems. Allerdings: Eine Rück-
kehr zur Tarifeinheit geht nur über ge-
setzliche Arbeitskampfregeln. Hier liegt
die entscheidende Herausforderung
gelungener Gesetzgebung. Will man
spezifisch am Arbeitskampfrecht anset-
zen, dann könnte eine Regelung zum Ar-
beitskampf in der Daseinsvorsorge hel-
fen. Diese würde die meisten Probleme
effektiv lösen und zugleich einen relativ
geringen Eingriff in das bestehende Sys-
tem darstellen. Hierzu gibt es auch Vor-
schläge, die sich an erprobten Modellen
im Ausland orientieren.
„Rechtlich ist das dünnes Eis“
INTERVIEW.
Aktuell legen erneut kleine Mitarbeitergruppen Bahn und Lufthansa
lahm. Warum ein Gesetz zur Tarifeinheit nicht weiterhilft, erklärt Gregor Thüsing.
personalmagazin:
Spartengewerkschaften
repräsentieren nur einen kleinen Teil der
Belegschaft. Streiken deren Mitglieder,
lähmen sie dennoch Unternehmen wie
Lufthansa oder Bahn. Wann hat Sie
zuletzt ein solcher Streik ausgebremst?
Gregor Thüsing:
Ach, das ist schon etwas
her. Es war auch gar nicht in Deutsch-
land, sondern in Rom. Da ging am Flug-
hafen nichts mehr und ich konnte erst
am nächsten Tag weg – was jedoch nicht
weiter schlimm war.
personalmagazin:
Zur Lösung aller Prob-
leme haben sich CDU, CSU und SPD im
Koalitionsvertrag darauf verständigt, die
Tarifeinheit gesetzlich zu verankern. Was
würde das bedeuten?
Thüsing:
Tarifeinheit heißt: „Ein Betrieb,
ein Tarifvertrag“. Das gab es lange Zeit
von selbst, weil Gewerkschaften nicht
konkurrierend gegeneinander angetre-
ten sind – und wenn doch, dann hat das
Bundesarbeitsgericht diesen Grundsatz
angewandt, ohne dass er ausdrücklich
im Gesetz stand. Erst nachdem 2010 das
Bundesarbeitsgericht von dieser Recht-
sprechung Abstand genommen hat, sind
mehrere konkurrierende Tarifverträge
im Betrieb – wir sprechen von „Tarifplu-
ralität“ – möglich.
personalmagazin:
Was plant die Regierung?
Thüsing:
Im Koalitionsvertrag ist die Ta-
rifeinheit aufgenommen, freilich in kryp-
tischer Formulierung: „Um den bestehen-
den Koalitions- und Tarifpluralismus in
geordnete Bahnen zu lenken, wollen wir
den Grundsatz der Tarifeinheit nach dem
betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip un-
ter Einbindung der Spitzenorganisatio-
nen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber
gesetzlich festschreiben. Durch flankie-
rende Verfahrensregelungen wird ver-
fassungsrechtlich gebotenen Belangen
Rechnung getragen“.
personalmagazin:
Was heißt das konkret?
Thüsing:
Darüber mag man rätseln. Wer
ist schon gegen geordnete Bahnen? Auch
welche „flankierenden Verfahrensre-
gelungen“ gemeint sein können, bleibt
unklar. Das Koalitionspapier schweigt,
und auch dem kundigen Juristen fällt
hier nichts ein. Denn Kooperations-
pflichten zwischen den verschiedenen
Gewerkschaften zu schaffen, würde das
Lager der Arbeitnehmerseite erheblich
PROFESSOR DR. GREGOR THÜSING
ist
Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und
Recht der sozialen Sicherheit an der Univer-
sität Bonn.