Seite 38 - personalmagazin_2014_10

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MANAGEMENT
_PERSONALAUSWAHL
personalmagazin 10 / 14
personalmagazin:
Herr Professor Wottawa,
Sie halten Schulnoten dennoch für prob-
lematisch bei der Vorauswahl …
Wottawa:
Zunächst gibt es ganz prak-
tische Probleme bei der Definition einer
gerechten Auswahl: Wenn Bewerber
A an einem Münchner Gymnasium die
Note drei hat, und B an einer Realschule
in Bremen die Note zwei, wer hat dann
die besseren Schulkenntnisse? Wie wird
das bei der Auswahl fair verrechnet? Au-
ßerdem benachteiligen Noten besonders
Personen mit geringer Motivation zum
schulischen Lernen, etwa wegen eines
nicht an der Schulbildung interessierten
Elternhauses. Viele von ihrer Intelligenz
her an sich gut ausbildungsfähige junge
Menschen haben schlechte Noten, weil
sie in der Schule schlichtweg keinen
Bock hatten. Besonders deutlich zeigt
sich dies etwa an den Ergebnissen von
männlichen Schülern mit türkischem
Migrationshintergrund.
Kersting:
Es ist eine Katastrophe, dass
Bildung in Deutschland vom sozioöko-
nomischen Status abhängt, wir verlie-
ren dadurch in einem unerträglichen
Ausmaß Potenziale. Es erscheint daher
zunächst ehrenwert, mit einem Verzicht
auf die aussagekräftigen Schulnoten
symbolisch gegen diese Ungerechtigkeit
vorzugehen – Don Quichotte ist ein Sym-
pathieträger. Aber so traurig es ist: Wenn
jemand seine fluide Intelligenz, sein Po-
tenzial ein Jahrzehnt lang – aus welchen
Gründen auch immer – nicht genutzt
hat, wenn er über keinen Lernzugang
verfügt, ist es unwahrscheinlich, dass er
in einer Wissensgesellschaft erfolgreich
sein wird. Es zählt nicht nur das logische
„Gegen schlichte Gewohnheit“
INTERVIEW.
Personalauswahl über Schulnoten ist umstritten, wie in Ausgabe 9/2014
berichtet. Selbst zwei bekannte Eignungsdiagnostiker sind sich darüber nicht einig.
personalmagazin:
Schulnoten zur Personal-
auswahl heranzuziehen, ist sehr beliebt
in den Unternehmen. Warum?
Heinrich Wottawa:
Der wichtigste Grund
ist wohl, dass man früher wenig andere
Kriterien für die Vorauswahl hatte. Wenn
man zum Beispiel für 20 Ausbildungs-
plätze 300 Bewerber hat, lädt wegen des
Aufwands kein Unternehmen alle 300 zu
einer persönlichen Vorstellung ein. Man
muss also eine Vorauswahl treffen, und
da hatte man gerade bei Schulabgängern
bis vor Kurzem wenig andere billige
Möglichkeiten.
personalmagazin:
Empfehlen Sie Unterneh-
men denn Schulnoten als Auswahlkrite-
rium?
Wottawa:
Vielleicht ganz am Ende des
Auswahlprozesses, im Zusammenhang
mit dem Einstellungsinterview. Für die
Vor­aus­wahl rate ich dringend ab. Noten
hängen stark von der Schulform, dem
Bundes­land, dem jeweiligen Leistungs-
stand der Schule oder Klasse et cetera ab.
Man muss als Recruiter fast schon den
Lehrer persönlich kennen, um zu wissen,
was bei einem Bewerber die Note zwei
in Mathematik wirklich bedeutet.
Martin Kersting:
Ich weiß um diese Pro-
bleme, hoffentlich führt die Diskussion
dazu, dass man Schulnoten nicht länger
schematisch, sondern in sachgerechter
Differenzierung nutzt. Die Kritik an
Schulnoten ist im Ansatz nicht falsch,
aber man sollte die Kritik nicht über-
ziehen. Die Schulnoten überhaupt nicht
mehr zu beachten bedeutet, das Kind mit
dem Bade auszuschütten. Mehrere em-
pirische Metaanalysen zeigen eindeutig,
dass Schulnoten – trotz aller Probleme –
sehr gute Vorhersagen des Ausbildungs-
erfolgs leisten. Dies wäre nicht mög-
lich, wenn den genannten Nachteilen
nicht auch Vorteile gegen­überstünden:
Schulnoten beruhen auf den Urteilen
mehrerer Lehrer, die die Schüler über
einen langen Zeitraum kennen. Und sie
beruhen – anders als die Ergebnisse
in Intelligenztests – auf verschiedenen
Erhebungsmethoden: mündliche und
schriftliche Leistungen in verschiedener
Form, von kurzen Wortbeiträgen bis hin
zu ausführlichen Referaten, von Multiple-
Choice-Tests bis hin zu komplexen freien
Texten. Das geht mit Defiziten in der Ob-
jektivität einher, aber die Verfahrensviel-
falt hat auch Vorteile.
PROF. DR. MARTIN KERSTING,
Inhaber
des Lehrstuhls für Psychologische Diagnos-
tik an der Justus-Liebig-Universität Gießen.