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Recht
_tarifeinheit
personalmagazin 07 / 14
der Vorschlag, dass es insoweit nicht
auf die absolute Mehrheit im Betrieb,
sondern auf die relative Mehrheit der
Gewerkschaftsmitglieder im Über-
schneidungsbereich ankommen soll. Im
Wesentlichen sieht der entsprechende
Vorschlag vor, dass sich bei einer Kon-
kurrenz von Tarifverträgen, die von
verschiedenen Gewerkschaften abge-
schlossen wurden, jener Tarifvertrag
durchsetzt, der durch die relative Mehr-
heit der Gewerkschaftsmitglieder im
Überschneidungsbereich legitimiert ist.
Der Arbeitgeber, der an mehrere Tarif-
verträge verschiedener Gewerkschaften
gebunden ist, muss für Arbeitsverhält-
nisse derselben Art nur den Tarifvertrag
anwenden, der von der Gewerkschaft
geschlossen wurde, die mehr Mitglieder
unter den betreffenden Arbeitnehmern
hat. Tarifverträge, die danach vollstän-
dig verdrängt werden würden, sollen
auch nicht erstreikbar sein. Zudem soll
zur Vermeidung der Vervielfachung von
Arbeitskämpfen von einem Vorrang des
Streikrechts jener Gewerkschaft auszu-
gehen sein, die bei einer Auseinander-
setzung um einen Firmentarifvertrag
über die meisten Mitglieder im Unter-
nehmen beziehungsweise bei jener um
einen Verbandstarifvertrag in den be-
troffenen Unternehmen verfügt.
Muss Verfassung geändert werden?
Beide rechtspolitischen Initiativen und
auch der Programmsatz im Koalitions-
vertrag werfen vor dem Hintergrund
eines möglichen Eingriffs in die durch
Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich gewähr-
leistete Koalitionsfreiheit verfassungs-
rechtliche Fragen auf. Offen ist bereits,
ob das beabsichtigte Gesetzesvorhaben
überhaupt auf einfachgesetzlicher Ebene
umsetzbar oder eine Änderung des Art.
9 GG erforderlich wäre. Soweit der Koali-
tionsvertrag von – allerdings leider nicht
näher beschriebenen – „flankierenden
Verfahrensregelungen“ spricht, durch
die den „verfassungsrechtlich gebote-
nen Belangen“ Rechnung getragen wer-
den soll, zeigt dies zumindest, dass das
Problem erkannt wurde. Insbesondere
muss dabei der Gesichtspunkt berück-
sichtigt werden, dass die Verdrängung
eines Tarifvertrags einer „Minderhei-
tengewerkschaft“ zu einem Eingriff in
deren grundrechtlich geschützte Koaliti-
onsbetätigungsfreiheit führt. Ob dies mit
dem Argument eines erheblichen Voll-
zugsproblems im tarifpluralen Betrieb
beziehungsweise der Befürchtung der
Vervielfachung von Arbeitskampfmaß-
nahmen gerechtfertigt werden kann, ist
zweifelhaft.
Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzge-
ber tätig werden und die Überlegungen
der beiden Vorschläge zur Schaffung
einer gesetzlichen Regelung aufgrei-
fen wird. Nachdem der Bundestag zwi-
schenzeitlich die Regierungspläne zur
Rente mit 63 beschlossen hat (lesen
Sie dazu Personalmagazin 5/2014, Sei-
te 82 ff.), wäre zwar eine gewisse Ge-
setzgebungskapazität frei. Gleichwohl
ist eine Umsetzung aufgrund der damit
einhergehenden verfassungsrechtlichen
Bedenken ungewiss. Denn kleinere Ge-
werkschaften würden so letztlich in ih-
rer Koalitionsfreiheit begrenzt werden.
Bezugnahmefälle dringend prüfen
Für die Praxis dürfte es bis dahin wich-
tig sein, arbeitsvertragliche Bezugnah-
meklauseln an mögliche Tarifpluralitä-
ten anzupassen. Denn die heute in der
Regel verwendeten Klauseln unterstel-
len regelmäßig, dass für den Arbeitge-
ber kraft Gesetzes nur ein Tarifvertrag
gelten kann, in dessen Geltungsbereich
das Arbeitsverhältnis fällt.
Keine Dauerlösung durch Gerichte
Sollte es nicht zu einer gesetzlichen Re-
gelung kommen, liegt es – erneut – an
den Gerichten, die in den Betrieben auf-
tretenden Konfliktsituationen einer Lö-
sung zuzuführen. Die derzeit in diesem
Zusammenhang diskutierten Probleme
– insbesondere die (gefühlte) Zunahme
von Streiks einzelner Berufsgruppen
und Spartengewerkschaften – dürften
dadurch indes nicht ohne Weiteres ge-
löst werden. Denn nach der neueren, aus
Art. 9 GG abgeleiteten Rechtsprechung ist
im Arbeitskampf bis zur Grenze des Ver-
nichtungsstreiks (fast) alles erlaubt.
Dr. Andrea Bonanni
ist
Partnerin bei CMS Hasche
Sigle, Köln.
Dr. Björn Otto
ist Partner
bei CMS Hasche Sigle, Köln.
Unternehmen werden sich innerhalb der aktuellen Diskussion auch die Frage stellen, ob
sie sich den Problemen des Tarifrechts durch einen Verbandsaustritt entziehen können.
Betroffenen tarifgebundenen Arbeitgebern bleibt zwar die Flucht aus dem Arbeitge-
berverband. Ein entsprechender Austritt schützt für sich gesehen allerdings nur vor
künftigen Tariferhöhungen. Das im Austrittszeitpunkt erreichte Tarifniveau bleibt erhal-
ten. Zudem kann die Gewerkschaft Arbeitskampfmaßnahmen auch mit dem Ziel einer
Tarifbindung führen. Insofern wird der Verbandsaustritt in der Praxis oft mit begleiten-
den Umstrukturierungsmaßnahmen verknüpft, die eine Veränderung von Arbeitsbedin-
gungen ermöglichen. Daran wird sich auch durch eine etwaige gesetzliche Regelung zur
Tarifeinheit nichts ändern.
Vorsorglich die Flucht antreten?
Hinweis