Seite 36 - personalmagazin_2012_06

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PERSONALDIAGNOSTIK
„KeineGeheimsprache“
INTERVIEW. „Micro Expressions“ können in der Personalarbeit nützlich sein –
wenn man sie nicht überschätzt. Professor Uwe P. Kanning zeigt die Grenzen.
personalmagazin:
Für welche Aufgaben
können Personaler die Erkenntnisse zu
den „Micro Expressions“ nutzen?
Uwe P. Kanning:
Studien zeigen, dass man
die Fähigkeit, „Micro Expressions“
wahrzunehmen, trainieren kann. Ihr
Einsatzgebiet liegt am ehesten in der
Gesprächsführung. Hierbei wäre es al-
lerdings wichtig, dass man die beobach-
teten Gesichtsausdrücke nicht einfach
wie eine Geheimsprache interpretiert,
von der man glaubt, man würde sie
beherrschen. Sinnvoller ist es, die Ein-
drücke als Hypothese zu begreifen und
sie dem Gesprächspartner zu spiegeln.
personalmagazin:
Wie könnte dies dann
beispielsweise aussehen?
Kanning:
Der Vorgesetzte könnte im
Personalentwicklungsgespräch zum
Beispiel den Eindruck äußern, dass
sein Mitarbeiter sich gerade möglicher-
weise nicht wohlfühlt oder von den
Vorschlägen des Chefs nicht überrascht
ist. In diesem Fall würde man also nicht
mit Unterstellungen arbeiten, sondern
die eigenen subjektiven Eindrücke
vergleichbar zur Technik des aktiven
Zuhörens einsetzen, um den Gesprächs-
verlauf positiv beeinflussen zu können.
personalmagazin:
Was sollten Personaler
noch beachten, wenn sie „Micro Ex-
pressions“ in der Eignungsdiagnostik
einsetzen wollen?
Kanning:
Sie sollten „Micro Expressions“
nicht einsetzen, um die Kompetenzen
der Bewerber einzuschätzen. Ziel der
Eignungsdiagnostik ist es, zeitlich über-
dauernde Kompetenzausprägungen
zu messen und nicht etwa flüchtige
Emotionen, die nur Sekundenbruchteile
andauern. Hinzu kommt das Problem
der mangelnden Objektivität: Die
Diagnose läuft ausschließlich über die
Wahrnehmung des Diagnostikers, ohne
dass man hier objektivierende Messins-
trumente zum Einsatz bringen könnte.
Verschiedene Diagnostiker können
leicht zu unterschiedlichen Ergebnissen
kommen. Zudem kann ein und derselbe
Diagnostiker in Abhängigkeit von sei-
ner situativen Aufmerksamkeitsspanne
unterschiedliche Interpretationen vor-
nehmen. Es ist ferner nicht belegt, dass
die Interpretation von „Micro Expressi-
ons“ die Validität eines Auswahlver-
fahrens im Sinne einer besseren Pro-
gnose beruflichen Erfolgs erhöht. Dies
erscheint auch eher unwahrscheinlich.
personalmagazin:
Oft werden „Micro
Expressions“ im Zusammenhang damit
erwähnt, Lügen ablesen zu können. Ist
das überhaupt möglich?
Kanning:
Da es sich beim Lügen nicht
um eine grundlegende Emotion des
Menschen handelt, ist auch nicht zu
erwarten, dass ein einheitliches Muster
der Muskelanspannungen existiert, in
dem sich das Lügenverhalten spiegelt.
Bestenfalls lässt sich eine minimale
Veränderung in der Mimik erkennen,
bei der aber nicht zweifelsfrei zu in-
terpretieren ist, worauf sie beruht. Die
möglichen Alternativinterpretationen
sind zahlreich. Hinzu kommt, dass
Menschen sich sicherlich dahingehend
unterscheiden, wie stark sie ihre Mimik
kontrollieren können. Die Annahme,
dass die Mimik immer die Wahrheit
verraten würde, ist ein Mythos.
personalmagazin:
Lassen „Micro Expressi-
ons“ auf Charakterzüge schließen?
Kanning:
Das ist nicht möglich. Bei
„Micro Expressions“ handelt es sich um
den Ausdruck aktueller emotionaler Re-
aktionen. Charakterzüge sind hingegen
abstraktere, zeitlich überdauernde und
situationsübergreifende Verhaltens-
orientierungen. Man würde ja auch
nicht annehmen, dass ein Mensch, der
gerade mit Genuss ein Stück Sahnetorte
isst, generell ein Vielfraß sei.
ist Professor für Wirtschaftspsychologie
an der Hochschule Osnabrück. Die
Personaldiagnostik gehört zu seinen
Forschungsschwerpunkten.
Prof. Dr. Uwe P. Kanning
Das Interview führte
Kristina Enderle da Silva
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personalmagazin 06 / 12