Seite 68 - personalmagazin_2011_12

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„Öffentliches Interesse beachten“
INTERVIEW. Ein europäisches Urteil hat die Diskussion zum „Whistleblowing“
neu entfacht. Unsere Experten klären: Was tun, wenn der Chef angezeigt wird?
personalmagazin:
Der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte (EGMR)
hat sich zum Thema „Whistleblowing“
geäußert. Was war eigentlich Gegen-
stand dieser Entscheidung, die mittler-
weile hohe Wellen geschlagen hat?
Christoph Hauptvogel:
Es ging um eine Al-
tenpflegerin in einem staatlichen Alten-
pflegeheim. Diese hatte sich zunächst
beim Pflegeheimbetreiber beschwert,
dass es zu wenig Personal gebe und
daher nicht alle Aufgaben ordnungs-
gemäß erfüllt werden könnten, zudem
fehle es an einer ordnungsgemäßen
Dokumentation. Nachdem die Be-
schwerde im Sand verlief, erstattete die
Arbeitnehmerin Strafanzeige gegen den
Arbeitgeber wegen Betrugs: Es werde
eine qualitativ hochwertige Betreuung
vorgetäuscht, die es aber in der Realität
nicht gebe. Der Arbeitgeber kündigte
daraufhin fristlos, und alle Instanzen
der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit
hielten die Kündigung für wirksam. Der
Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte sprach der Arbeitnehmerin
dagegen eine Entschädigung zu.
personalmagazin:
In den vorangegangenen
Verfahren vor den Arbeitsgerichten war
dem Arbeitgeber noch ein Kündigungs-
recht zugestanden worden. Mit welcher
Begründung sieht die deutsche Arbeits-
gerichtsbarkeit derartige Sachverhalte
generell anders als jetzt der EuGH?
Michael Henne:
Nach der Rechtsprechung
des BAG kann ein Kündigungsgrund
nicht nur dann vorliegen, wenn der
Arbeitnehmer in einer Strafanzeige
gegen den Arbeitgeber wissentlich oder
leichtfertig falsche Angaben gemacht
hat. Die Anzeige darf sich auch nicht
als unverhältnismäßige Reaktion auf
ein Verhalten des Arbeitgebers oder
seines Repräsentanten darstellen. Der
Prüfungsmaßstab der Verhältnismä-
ßigkeit ermöglicht eine umfassende
Abwägung der beiderseitigen Interes-
sen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer,
insbesondere hinsichtlich der Motivati-
on des Anzeigenden und des Versuchs
einer innerbetrieblichen Abhilfe. Das
LAG Berlin, dem eine übertriebene Ar-
beitgeberfreundlichkeit sicherlich nicht
nachgesagt werden kann, sah einen
Kündigungsgrund im vorliegenden Fall
in zweifacher Hinsicht: Die Anzeigeer-
statterin hat die Vorwürfe „leichtfertig
auf Tatsachen gegründet, die im Pro-
zess nicht dargelegt werden konnten“.
Außerdem war die Anzeige unverhält-
nismäßig, weil es der Arbeitnehmerin
um eine „Kampagne“ gegen den Arbeit-
geber über einen angeblichen Perso-
nalmangel ging. Tatsächlich ging die
Haltlosigkeit der Vorwürfe so weit, dass
die Arbeitnehmerin im Prozess nicht
einmal „ansatzweise“ einen Sachverhalt
benennen konnte, der den Vorwurf des
Abrechnungsbetrugs „als nachvollzieh-
bar hätte erscheinen lassen“. In der
verzerrenden Presseberichterstattung
spielte die Haltlosigkeit der Vorwürfe
aber leider keine Rolle.
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EUROPARECHT
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