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TARIFRECHT
RECHT
„Funktionselitenwerden folgen“
INTERVIEW. Über die Folgen der neuen Tarifpluralität sprachen wir mit einem
Anwalt, der reichlich Erfahrungen mit Berufsgewerkschaften gesammelt hat.
personalmagazin:
Die Stellungnahme des
10. Senats zur Tarifeinheit erscheint in
den Medien als „Sensation“. Sehen Sie
dies auch so?
Thomas Ubber:
Die Entscheidung bedeutet
den Abschied von einem tragenden
Prinzip des Tarifgeschehens, das maß-
geblich zum sozialen Frieden während
der zurückliegenden 50 Jahre beigetra-
gen hat. Das ist schon eine „Sensation“.
Die Kehrtwende kommt aber nicht
überraschend. Einzelne Bundesrichter
haben den Rechtsprechungswandel in
den letzten Jahren schon in Vortrags-
veranstaltungen angekündigt.
personalmagazin:
Sie haben in Sachen
Tarifrecht schon so manche „Schlacht
geschlagen“. Hatten Sie beim letzten
Bahnstreik die Meinung des Bundes-
arbeitsgerichts schon vorhergesehen?
Ubber:
Die Tarifeinheit war ein zentraler
Punkt bei den Auseinandersetzungen
mit der Gewerkschaft Deutscher
Lokomotivführer (GDL). Wir haben den
Arbeitsgerichten erläutert, dass im Fall
einer Abkehr von der Tarifeinheit das
Arbeitskampfrecht neu geschrieben
werden muss. Im Fall einer Konkurrenz
zwischen mehreren Gewerkschaften
muss das Streikrecht eingeschränkt
werden, damit die verfassungsrechtlich
geschützte Kampfparität zwischen
Arbeitgeber und Gewerkschaft gewahrt
bleibt. Einige Instanzgerichte sind
unserer Argumentation gefolgt.
personalmagazin:
Jetzt wird das Gespenst
des „Tarifchaos“ an die Wand gemalt.
Worin sehen Sie das Hauptproblem?
Ubber:
In naher Zukunft werden sich
weitere Berufsgewerkschaften bilden.
Ansätze hierzu gibt es bereits bei den
Berufsfeuerwehrleuten und dem Pflege-
personal. Weitere sogenannte Funktions-
eliten werden folgen. Streikmaßnahmen
solcher Berufsgewerkschaften stehen
Unternehmen weitgehend hilflos gegen-
über, da die Friedenspflicht aus einem
für alle Arbeitnehmer geltenden Tarif-
vertrag nicht vor Streiks der „Funktions-
elite“ schützt. Dementsprechend droht
eine Verlagerung des Arbeitskampfs vor
die Arbeitsgerichte – mit ungewissem
Ausgang.
personalmagazin:
Ist nicht für kleine und
mittelständische Betriebe die Abkehr
von Tarifbündnissen die Lösung?
Ubber:
Hier gibt es sicherlich keine
Patentlösung. Vielmehr muss man im
Einzelfall unter Berücksichtigung der
Größe, Geschäftstätigkeit und Streikan-
fälligkeit des Unternehmens sowie des
Organisationsgrads der Arbeitnehmer
und der Durchsetzungskraft der betei-
ligten Gewerkschaften den richtigen
Weg finden. Dabei spielt auch die
Risikobereitschaft des Managements
eines Unternehmens eine gewichtige
Rolle. Schließlich kann der Tarifaus-
stieg im schlimmsten Fall langwierige
Streikmaßnahmen nach sich ziehen.
Zu berücksichtigen ist auch, dass die
Abkehr von Tarifbündnissen aufgrund
der Nachbindung und der Nachwir-
kung von Tarifverträgen häufig erst
mittel- und langfristig mehr Flexibilität
verspricht.
personalmagazin:
Diskutiert werden jetzt
auch gesetzliche Beschränkungen der
Tarifpluralität. Macht das Sinn und wo
sollte man hier ansetzen?
Ubber:
Wenn die Tarifeinheit gesetzlich
im Tarifvertragsgesetz verankert wird,
wäre dies sinvoll und auch mit Artikel
9 Absatz 3 des Grundgesetzes verein-
bar, da durch eine Kollisionsregel die
Funktionsfähigkeit des Tarifvertrags-
systems gesichert wird. Denkbar wäre
auch eine Korrektur des Arbeitskampf-
rechts, etwa durch eine gesetzliche
Ausweitung der Friedenspflicht.
ist Partner bei Hogan Lovells in Frank-
furt am Main und Berater der Deutschen
Bahn und der Lufthansa in deren
Tarifkonflikten mit den dort vertretenen
Gewerkschaften.
Thomas Ubber
Das Interview führte
Thomas Muschiol.
08 / 10 personalmagazin