personalmagazin 08 / 10
Reaktionen zum Pfandbonurteil
STANDPUNKTE. Das Bundesarbeitsgericht hat zum umstrittenen Bereich der
Bagatellkündigungen Stellung bezogen. Wir haben dazu Stimmen eingeholt.
Wenn das BAG nunmehr erstmalig in
diesem Zusammenhang den Begriff des
durch langjährige Betriebszugehörig-
keit erworbenen „Vertrauenskapitals“
ins Spiel bringt, wird die Beurteilung,
ob gekündigt werden kann oder eine
Abmahnung ausreichend ist, unkalku-
lierbar. Nach wie vielen Jahren Betriebs-
zugehörigkeit soll dem Arbeitnehmer
ein „Freischuss“ zustehen? Das Vertrau-
en in die Ehrlichkeit des Arbeitnehmers
ist gerade im Einzelhandel unabding-
bare Voraussetzung für den Bestand des
Arbeitsverhältnisses.
Die Entscheidung des BAG wirft viele
Fragen gerade für die Praxis auf. Viele
Unternehmen entfernen zumBeispiel auf
der Grundlage entsprechender Betriebs-
vereinbarungen Abmahnungen nach
zwei Jahren aus der Personalakte. Die Per-
sonalakte spiegelt daher nicht ansatzwei-
se den Verlauf des Arbeitsverhältnisses
wider. Dies wird sich sicherlich ändern.
Sachverhalte, die bislang nur mündlich
angemahnt worden sind, werden zukünf-
tig vermehrt durch Abmahnungen oder
zumindest schriftliche Gesprächsnotizen
dokumentiert werden. Ob den Arbeits-
vertragsparteien durch die Entscheidung
geholfen wurde, ist daher fraglich.“
Tillmanns: Verhalten dokumentieren
LAG-Richter Christoph Tillmanns meint:
„Das BAG hat die Verhältnisse zurechtge-
rückt und klargestellt, dass es keine Au-
tomatik in dem Sinne „Wer klaut, fliegt
immer fristlos raus!“ gibt. Das war aber
auch schon in der „Bienenstichentschei-
dung“ von 1984 so angelegt. Vollständige
Rechtsicherheit wird es im Bereich der Ba-
gatelldelikte nie geben. Was helfen kann,
ist die Interessenabwägung ernst zu neh-
men und auch wirklich durchzuführen
und dabei auch eine gewisse kritische
Distanz zu dem eigenen Wunsch, den auf-
fällig gewordenen Arbeitnehmer loszu-
werden, zu wahren. Es kommt eben nicht
darauf an, ob der konkrete Arbeitgeber
aufgrund seiner subjektiven Befindlich-
keiten das Vertrauen in den Arbeitnehmer
verloren hat, sondern ob ein besonnener,
verständiger Arbeitgeber hier auch keine
Grundlage für die Fortsetzung des Ar-
beitsverhältnisses mehr sieht. Nunmehr
stellt sich allerdings die Frage, ob künf-
tig korrekten Abmahnungen oder auch
richtigen Dokumentationen von Mitar-
beitergesprächen eine größere Bedeutung
zukommt, um das „Kapital an Vertrauen“
Von
Thomas Muschiol
(Red.)
W
as mit großem medialen
Aufwand für Aufregung
sorgte, wird natürlich erst
recht in der Fachwelt hef-
tig diskutiert. Einig ist man sich zwar,
dass die Entscheidung des Bundesar-
beitsgerichts (BAG) zum „Pfandbonfall“,
die mittlerweile als „Emmely-Urteil“ in
die Literatur aufgenommen wurde, kei-
ne Kehrtwende in der Betrachtung von
Bagatellkündigungen bedeutet. Über die
Konsequenzen für die tägliche Betriebs-
praxis bestehen aber durchaus Mei-
nungsverschiedenheiten. Wir haben dazu
die Meinung einer am Prozess beteiligten
Anwältin sowie die Schlussfolgerungen
weiterer Kenner der Materie eingeholt.
Schindler-Abbes: Unkalkulierbarkeit
Karin Schindler-Abbes, Anwältin im Em-
mely-Prozess, bewertet das BAG-Urteil
folgendermaßen: „Das BAG hat in der
Entscheidung zwar prinzipiell an seiner
bisherigen Rechtsprechung festgehalten.
Abgerückt ist das BAG jedoch von sei-
ner bisherigen Rechtsprechung, wie sie
zum Beispiel in der Entscheidung vom
11. Dezember 2003 (2 AZR 56/03) zum
Ausdruck kommt, wonach in derartigen
Fällen der Ausspruch einer Abmahnung
regelmäßig entbehrlich ist.
„Vollständige Rechtssicherheit wird es im
Bereich der Bagatelldelikte nie geben.“
Christoph Tillmanns, Vorsitzender Richter am LAG Baden-Württemberg
„Das Vertrauen in die Ehrlichkeit ist
gerade im Einzelhandel unabdingbar.“
Karin Schindler-Abbes, Anwältin im „Emmely-Prozess“
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KÜNDIGUNGSRECHT
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