Seite 34 - Immobilienwirtschaft_2014_07-08

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Investment & Entwicklung
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kolumne
Auf der von Aaron Betsky kuratierten Architektur-Biennale in
Venedig untersuchte er 2008 das Wachstum der weltweit großen
Städte. Auch Berlin war dabei. Doch die Studie wies für diese
Stadt als einzige ein Schrumpfen aus. Heute sieht die Realität
anders aus. Seit drei Jahrenwächst Berlin jährlich umetwa 45.000
Einwohner. Im Wesentlichen kommen junge, gut ausgebildete
Menschen. Sie kommen vorrangig aus dem Brandenburger
Umland und anderen Bundesländern, aber auch aus Süd- und
Osteuropa sowie aus Asien. Daraus resultieren deutliche Steige-
rungen der Mieten und der Kaufpreise für Wohnungen. Diese
Entwicklung ist in allen Ballungsräumen gleich.
Reaktionsschwierigkeiten
Der Wandel kam so überraschend,
dass auch die Politik Schwierigkeiten hat, darauf zu reagieren.
Nach Jahren, in denen kaumWohnungen gebaut wurden, hat sich
die Situation völlig verändert. Bis 2005 wurden im Jahresdurch-
schnitt noch für 3.000 bis 4.000Wohnungen Baugenehmigungen
ausgesprochen. Im vergangenen Jahr wurden für über 12.000
Wohnungen Baugenehmigungen erteilt. Der Bau für Eigentums-
wohnungen boomt, und zum ersten Mal seit Anfang der 90er
Jahre werden auch Mietwohnungen in größerer Zahl errichtet.
Doch der Blick auf andere Regionenmacht wenigMut. Schaut
man etwa nach London, schockieren die Miet- und Kaufpreise.
Die Durchschnittsmiete für ein 1-Zimmer-Apartment im Zen-
trumbetrug laut der staatlichen Stelle zur Liegenschaftsbewertung
1.368 Pfund (1.710 Euro) proMonat. Auch inHamburg undMün-
A
mBrandenburger Tor hat die Fanmeile wieder geöffnet. 2006
konnten die Berliner ihr Glück kaum fassen. Nach Berlin
strömten so viele Touristen wie nie zuvor. Und die nahmen
ein begeistertes Bild von der Stadt und ihren Bewohnernmit nach
Hause. In vielen Zeitungsartikeln, die darauf folgten, wurde eine
Stadt erklärt, die etwas widerspiegelte, was viele hier zwar im
Täglichen erlebten, aber nicht richtig gelten lassen konnten. Eine
offene Stadt mit gut gelaunten freundlichen Bürgern.
2006 war ein Wendepunkt in der medialen Wahrnehmung
von Deutschland und besonders auch von Berlin. Bis dahin war
Berlin im Wesentlichen leer, arm und bestenfalls im Umbruch
begriffen – manche nannten das auch sexy. Nach 17 JahrenWen-
deversprechen drohte der Stadt und ihren Menschen die Puste
für weitere Anstrengungen auszugehen.
Auf Identitätssuche
Erst der Blick von außen erleuchtete den
Berlinern ihre eigene Situation. Sie lebten in einer unfertigen Ge-
sellschaft, die sich seit derWende in ihrer Zusammensetzung stark
verändert hat. Kaum einer in der Stadt kann sich noch an die Zeit
der Mauer erinnern. Die Meisten sind danach hierhergezogen.
Viele sind immer noch auf der Suche nach ihrem Freundeskreis,
dem richtigen Ort zum Wohnen und möglicherweise auch zum
Arbeiten. Das überträgt sich auf die Ausrichtung der urbanen
Gesellschaft. Das Ungenügen an den tatsächlichen Verhältnissen
führt zu kontinuierlichenVeränderungen, zumAusprobieren von
Alternativen, Weiterentwicklungen und Gegenentwürfen.
Von Berlin 2.0 und Wohnen-2-go
Foto: Dirk Weiß
Eike Becker