Reine Heilung
der Wunden?
Retroarchitektur.
Viele deutsche Städte stellten den Charme ihrer
historischen Altstadt, die im Krieg zerstört worden war, wieder her.
Warum liegen solche Rekonstruktionen noch immer im Trend?
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Graffiti
Warum
Dr. Gudrun Escher, Xanten
Mit Rekonstruktionen basteln
Menschen Vergangenheiten.
Rekonstruktionen. Schon die Wortbe-
deutung hat zahlreiche Facetten, und
jede Maßnahme, die auf die öffentliche
Tagesordnung kommt, ruft gegensätz-
liche Reaktionen hervor, von mit mis-
sionarischem Eifer gepaarter Begeiste-
rung bis zu Häme und Ablehnung als
Geschichtsfälschung oder anbiedernde
Geschäftemacherei. Interessanter ist das
Phänomen, das erst die Voraussetzung
für Rekonstruktionen jeglicher Art bil-
det: Die Zerstörung. Als unkritisch wer-
den Natur- oder naturähnliche Gewalten
erachtet wie etwa die Luftstöße der Dü-
senjäger, die die Decke der barocken
Wieskirche in Bayern einstürzen ließen.
Sie wieder herzustellen, stand nie infrage.
Diffiziler schon die Dresdner Frauenkir-
che, deren Trümmer dem DDR-Regime
als Mahnmal dienten, ehe die Kirche im
Zuge einer internationalen Wiedergut-
machungsaktion mit britischer Beteili-
gung wieder aufgebaut werden konnte.
Auslöser der Zerstörung waren wie in
den meisten anderen Fällen vom Berliner
Stadtschloss bis zur Frankfurter Altstadt
die Bombardements des Zweiten Welt-
kriegs. Die Vernichtung jedoch, die erst
den Keim für die Wünsche nach Heilung
der Wunden legte, fand später statt, sei es
als demonstrative Sprengung der Reste
und Überbauung mit der Repräsentanz
eines neuen Staats wie in Berlin oder als
ebenso demonstrative Überbauung des
abgeräumten Trümmerfelds mit der Re-
präsentanz einer neuen technokratischen
Gesellschaftsordnung wie in Frankfurt.
Beides war Ausdruck eines Zukunfts-
versprechens. Versprechen auf eine neue,
bessere Welt, auf Wachstum und Wohl-
stand für alle. Nachdem schon in den
1980er-Jahren in Westdeutschland der
Verdacht aufkeimte, dass der Club of
Rome 1972 recht gehabt haben könnte
mit der Warnung vor den Grenzen des
Wachstums, gaben die „blühenden
Landschaften“ der Wendezeit dem Op-
timismus noch einmal Auftrieb. Inzwi-
schen ist es auch damit vorbei. Was jetzt
fehlt angesichts globaler Verwerfungen,
ist ein Zukunftsversprechen, das den
Namen verdient und Antworten darauf
gibt, wie eine Gesellschaft, die auf ein
„immer weiter vorwärts“ aufgebaut ist,
den Weg zurück an ein rettendes Ufer
finden soll. Rekonstruktionen könnten
demnach gelesen werden als Versuche
der Menschen, sich Vergangenheiten zu
basteln, die zu noch als möglich erachte-
ten Zukünften passen könnten.
Zweifelhafte Substitute
Rekonstruktionen von Geschichte wie in
der Frankfurter Altstadt nach dem Vor-
bild der nach 1933 „aufgeräumten“ Neu-
en Altstadt oder in Berlin, wo der neue
Stadtraum und das alte Schloss nicht
mehr aufeinanderpassen, weil dessen
Hauptfassade jetzt an einer Nebenstraße
läge, sie alle bleiben zweifelhafte, entlar-
vende Substitute. Aber Antworten geben
sie keine.
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12-01 I 2012
Foto: ojka/shutterstock.com