Seite 63 - DIE_WOHNUNGSWIRTSCHAFT_2013_04

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von einembundesweiten Trend zumMiteinander:
„Immer mehr Menschenwollen nachbarschaftlich
und selbstbestimmt wohnen“, sagt Knaier. Ob in
Nürnberg oder Stuttgart, in Hannover oder Berlin,
überall in den Städten sprießen Initiativenwie Pil-
ze aus dem Boden. Insbesondere Genossenschaf-
ten mit ihren basisdemokratischen Strukturen
gelten als idealer Nährboden für das Entstehen
von Gemeinschaft. Allein in München folgen drei
Genossenschaften, neben Wagnis noch Frauen-
wohnen undWOGENO, den Prinzipien der „neuen
Nachbarschaften“, wie Soziologen das Phänomen
auch gerne nennen.
Der Zukunftsforscher Horst Opaschowski geht
davon aus, dass den neuen Nachbarschaften
die Zukunft gehört: „Schon heute gilt: Je mehr
Nachbarn sich beim Vornamen kennen, desto si-
cherer ist eine Gegend“, stellt Opaschowski fest.
Angesichts des demografischen Wandels ge-
winnen Nachbarschaften, die über distanzierte
Grußbeziehungen oder das Ausborgen von Mehl
hinausgehen, tatsächlich an Bedeutung. Da es
an Kindern fehlt, die sich kümmern, werden sich
die Menschen künftig stärker selbst organisieren
müssen. Nachbarschaften könnten sich dadurch zu
privaten Netzwerken gegenseitiger Hilfe wandeln,
prognostizieren Sozialforscher, zu einer neuen
Form der Solidargemeinschaft, die wie eine Er-
satzfamilie funktioniert. „Die spontane Hilfsbe-
reitschaft im Nahmilieu wird immer wichtiger“,
sagt Opaschowski.
Gemeinschaft braucht Raum
Doch wie sollen Nachbarschaften im Sinne eines
solidarischen Netzwerkes entstehen, wenn der
Gebäudebestand den sich ändernden Bedürfnis-
sen der Menschen kaum entspricht und das Gros
der Neubauten nachbarschaftsfördernde Aspek-
te weitgehend außer Acht lässt? „Gemeinschaft
braucht Raum“, sagt Doris Knaier. „Es muss mög-
lich sein, sich außerhalb der eigenen vier Wände
zu treffen.“Wohnungsunternehmen, die nachbar-
schaftlichesMiteinander fördernwollen, müssten
Gemeinschaftsflächen einplanen. Bei der Genos-
senschaft Wogeno ist das Standard: Fast alle der
15WOGENO-Häuser verfügen über einenGemein-
schaftsraum. „Selbst in Altbauten, in denen Ge-
meinschaftsräume ursprünglich nicht vorgesehen
waren, findet sich immer eine Möglichkeit“, sagt
Peter Schmidt, Vorstand der WOGENO München
eG. Kellerabteile werden etwas kleiner geplant
als üblich, um Platz zu schaffen für einen lichten
Kellerraum, in demdie Kinder nachHerzenslust to-
ben können. Neubauten der Genossenschaft haben
Treppenhäuser, die Platz bieten für einen Ratsch
unter Nachbarn; oder werden erschlossen durch
großzügige Laubengänge, deren balkonartige Aus-
buchtungen zum Verweilen einladen.
Auch bei Wagnis setzt man auf nachbarschafts-
fördernde Architektur, auf Quartiersplätze und
Gemeinschaftsgärten, auf gemeinschaftlich ge-
nutzte Gäste-Appartements für Besuch von außer-
halb, auf lichte und verbindende Durchgänge, die
sich auch für Veranstaltungen der Hausgemein-
schaft eignen. „Wir wollen, dass sich Menschen
auch ungezwungen und ungeplant treffen“, sagt
Wagnis-Chefin Elisabeth Hollerbach. „So entste-
hen Nachbarschaft und Gemeinschaft.“ Die Ge-
meinschaftsflächen finanzieren die Bewohner mit
einem Teil ihres monatlichen Mietzinses. Werden
bei Wagnis oder WOGENO Neubauten geplant,
sitzen die künftigen Bewohner mit am Tisch und
nehmen Einfluss auf die Gestaltung ihres neuen
Zuhauses. Auf diese Weise lernt sich die künftige
Hausgemeinschaft schon frühzeitig kennen und
hat im Idealfall bereits beim Einzug ein gutes
nachbarschaftliches Verhältnis entwickelt.
Wer sind die Mieter?
Die Mieter in Wagnis- und WOGENO-Häusern
entstammen den verschiedensten Milieus und
Einkommensklassen – eine Vielfalt, dem der
Wohnungsmix in den Häusern entspricht: Die bei-
den Genossenschaften kombinieren in Neubauten
oder bei der Sanierung bestehender Häuser frei-
finanzierte Miet- und Eigentumswohnungen mit
öffentlich gefördertemWohnraum, der entweder
als klassische Sozialwohnung errichtet wird oder
im München-Modell, für das die Einkommens-
grenzen einer Sozialwohnung plus 60% gelten.
In Wagnis- und WOGENO-Häusern leben Ärmere
und Reichere, Singles und Familien, Junge und
Alte. Allerdings wohnt man hier nicht zum Billig-
tarif: Die Mieten liegen meist nur knapp unter
Blick auf die Ostseite mit Treppenhaus und Eingang zum Café.
Schön zu sehen sind die individuell gestalteten Nischen, die von den Laubengängen aus zu erreichen sind
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