Seite 27 - DIE_WOHNUNGSWIRTSCHAFT_2012_09

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Können Sie bereits eine Zwischenbilanz zie-
hen?Wie ist die Resonanz vonWohnungsunter-
nehmen, Politik, Planern und Bauwirtschaft?
Bisher konnten sechs Zertifikate vergeben wer-
den. Mit großemEngagement haben die Bauherren
das Bewertungssystem Ende 2011 innerhalb der
Pilotphase erstmalig angewendet. Die Verleihung
am23. Februar 2012 auf der Baufachmesse bautec
sorgte für viel Aufmerksamkeit. Infolgedessen
zeigte sich ein großes Interesse potenzieller An-
wender, also von Planern und Architekten. Es gab
viel Lob.
Die Anwendung der Steckbriefe erfolgt entlang
des gesamten Planungsprozesses, also bereits sehr
frühzeitig im Projekt. Der Antrag auf Konformi-
tätsprüfung erfolgt in der Regel erst sehr spät oder
nach Abschluss des Projekts. Daher gingenwir von
einer gewissen Einführungsphase aus. Obwohl das
Siegel erst im Februar öffentlich vorgestellt wur-
de, wissenwir von einigen Neubauprojekten, dass
es bereits fester Bestandteil der fortgeschrittenen
Planung ist. Dies freut uns natürlich sehr.
Nun muss sich das Siegel in der Praxis beweisen.
Wir erwarten mit Spannung die ersten regulären
Anträge zur Siegelvergabe und die Ergebnisse.
Auch wird sich zeigen, ob der Zertifizierungspro-
zess oder einzelne Steckbriefe nachjustiert wer-
den müssen. Insgesamt können wir derzeit von
einem sehr erfolgreichen Start sprechen.
Provozieren Sie nicht regelmäßigWiderspruch,
dass Sieweiche Aspekte –wie dieWohnqualität
oder soziale Faktoren, ökologische und kultu-
relle Aspekte – von Nachhaltigkeit bewerten?
Wie erfassen Sie diese imGegensatz zu harten
Kriterien?
In der Tat ist es schwierig, weiche – imSinne quan-
titativ nicht messbarer, aber dennoch nachweis-
barer – Faktoren zu bewerten. Die Unterscheidung
zwischen harten undweichen Kriterien verstehen
viele sicherlich derart, dass sie eine Einteilung vor-
nehmen in quantitativ berechenbare Kriterien, wie
die Lebenszykluskosten, und eher qualitativ abge-
fragte, wie dieWohnqualität. Nach unserer Syste-
matik gibt es keine harten und weichen, sondern
bewertende Kriterien und beschreibende Kriterien
(s. Artikel ab Seite 22).
Wenn wir jedoch einen ganzheitlichen Ansatz,
einen Gleichklang von soziokulturellen, ökono-
mischen und ökologischen Parametern anstreben,
ist es unausweichlich, auch sog. weiche Faktoren
zu betrachten. Dafür habenwir ein passendes An-
forderungssystem entwickelt. Die Wohnqualität
stellt jedoch darüber hinaus aus unserer Sicht kein
weiches Kriteriumdar. Es setzt sich unter anderem
aus Funktionalität und Stauraum, Barrierefreiheit,
Stellplätzen und thermischem Komfort zusam-
men. Hier müssen klar formulierte Anforderungen
erfüllt werden, auch wenn diese nicht auf einer
metrischen Skala darstellbar sind.
Eine Besonderheit des Systems stellt die Herstel-
lung eines methodischen Zusammenhangs zwi-
schen Gebäudestandort und Umfeld einerseits
sowie den planerischen und baulichen Reaktionen
auf Standort und Umfeld andererseits und – ganz
wichtig – die Einbeziehung der ökonomischen
Nachhaltigkeit zusätzlich auch aus Sicht des
Bauherrn dar.
Unseres Erachtens kann es nachhaltig sein, ein
wohnungswirtschaftliches Portfolio in einem
Quartier zu ergänzen – z. B. durch bewusst geplan-
te kleinereWohnungen. ImFalle eines Punktesys-
tems könnte durch eine rein solitäre Betrachtung
ohne Umfeld eine schlechte Bewertung erfolgen.
Dagegen können innerhalb des NaWoh-Zertifikats
solche Entscheidungenmittels einer Standortbe-
schreibung begründet und anhand ökonomischer
Kriterien nachgewiesenwerden und erfahren dann
keine Nachteile, sofern z. B. die Funktionalität hie-
runter nicht leidet.
Es besteht demnach kein Widerspruch in der Be-
wertung sogenannter weicher Aspekte. Ziel muss
doch sein, ein Gebäude zu errichten, das der ge-
forderten Qualität entspricht, in sein Umfeld passt
und langfristig eine gute Investition darstellt.
Daher ist es für uns wichtig – und das haben wir
innerhalb des Siegels umgesetzt – dass alle As-
pekte des Wohnungsbaus in Betracht zu ziehen
sind. Nicht in jedem Fall können sie quantitativ
bewertet werden.
Sollte sich herausstellen, dass aufgrund des Stand-
orts ein neu zu planendes Gebäude keine langfris-
tige Vermietung ermöglicht, kann es auch nicht
nachhaltig sein, Ressourcen wie Finanzen, aber
auch Energie hierfür aufzuwenden.
Sie zeichnen besonders vorbildliche Neu-
bauprojekte aus. Ist eine Erweiterung auf
Sanierungs- und Modernisierungsprojekte
angedacht? Wie müsste ein diesbezügliches
Bewertungssystem aussehen?
Die Siegelvergabe erfolgt an diejenigen Projekte,
die die Bewertungskriterien erfüllen – aus unserer
Sicht also an nachhaltige Neubauprojekte. ‚Be-
sonders vorbildlich’ ist in diesemZusammenhang
schwer einzuordnen. Es gibt keine Steigerungs-
form von nachhaltig. Es geht darum, ein Gebäu-
de aufgrund eines aktuellen Bedarfs zu errichten,
das dann aber in vielerlei Hinsicht für Mieter und
Vermieter, Umfeld und Umwelt langfristig zufrie-
denstellend Bestand hat. Dennoch erfordert die
Nachweisführung einen zusätzlichen Aufwand.
Diesen Aufwand einzugehen und die Nachhaltig-
keit nachzuweisen, ist insofern dann doch beson-
ders vorbildlich.
Ob eine Erweiterung auf Sanierungs- und Moder-
nisierungsprojekte sinnvoll ist, prüfen wir noch.
Dagegen sprechen verschiedene Gründe. Der
Wichtigste ist, dass bestehende Gebäude unter
völlig anderen Rahmenbedingungen errichtet
wurden, als wir sie heute haben. Würde nur die
Sanierung beurteilt, würde die Ganzheitlichkeit
zu kurz kommen. Andererseits besteht durchaus
Interesse, Modernisierungen von Gebäuden unter
Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu dokumentie-
ren. Dieses Thema ist also noch nicht vollständig
ausdiskutiert, so dass eine endgültige Aussage
dazu derzeit nicht möglich ist.
Für interessant halten wir eine Erweiterung auf
Bauträgerprojekte im Bereich Ein- und Zweifa-
milienhäuser. Dazu bedarf es aber erheblicher
Vereinfachungen der Kriteriensteckbriefe. Die
derzeitige umfangreiche Fassungwird von kleinen
Bauprojekten nicht akzeptiert werden.
Frau Esser, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Olaf Berger.
Die zwei im Juni 2011 fertiggestellten Neubauten mit
18 Zwei- und Dreizimmerwohnungen sowie einer Bankfi-
liale im Erdgeschoss zeichnen sich unter anderem durch
das Wohnumfeld und intelligente Raumkonzepte aus:
Die Räume der Wohnungen sind vielfältig nutzbar – z. B.
als Kinder-, zusätzliches Schlaf- oder Arbeitszimmer. Die
Neubebauung auf einem lange brachliegenden Areal in
heterogen gewachsener Umgebung fügt sich nahtlos in
die lebendigen Wohnviertel der östlichen Vorstadt ein.
Die Mieter haben kurze Wege zu den Einrichtungen des
täglichen Bedarfs, zu Ärzten und attraktiven Freizeitan-
geboten. „Übergeordnetes Ziel der Projektentwicklung
war es, Konzepte für ein nachhaltig funktionierendes
Miteinander von Wohnen und Gewerbe zu entwickeln“,
sagt Martin Paßlack von der Gewoba, Bremen.
NAWOH-QUALITÄTSSIEGEL FÜR BREMER GEORG-BITTER-QUARTIER
Quelle: Gewoba, Foto: Werk 1 Döring & Mahnhardt GbR
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9|2012