weniger mondänen Stadtvierteln, in den Seiten-
straßen der kleinen Leute oder gar in Stadtrand-
siedlungen nur schwerlich Lobenswertes finden.
Umso stärkermussman alleAkteure ermutigen, die
gegen allzu flüchtigen Augenschein die Innensicht
solch übel beleumdeter Quartiere formulieren und
verteidigen. Damit sind Nachbarschaftsinitiativen
genauso gemeint wie Wohnungsverwalter oder
Quartiersmanager. Auch Architekten möge man
hin und wieder an die These Ernst Blochs erinnern,
Architektur sei und bleibe „ein Produktionsversuch
menschlicher Heimat”. Dass dieser Prozess nicht
mit der Schlüsselübergabe eines fertig gestellten
Hauses endet, im Gegenteil, dass er danach wohl
erst in seine entscheidende Phase eintritt – dieser
schlichten Weisheit fühlen sich glücklicherwei-
se immer mehr engagierte Akteure verpflichtet:
Heimat entsteht letztlich nur als sozialer Prozess!
Natürlich sollenGroßsiedlungen als eindrucksvolle
Stadträumemitmöglichst einprägsamenArchitek-
turenwahrgenommenwerden, aber nochwichtiger
scheint ihre Eignung als praktische Bühne für den
Alltag ihrer Bewohner.
Auch Plattenbauten werden zu Altbauten
Sobald wir unsere Aufmerksamkeit weg von den
Bildern, hin zu den Prozessen lenken, kommt
etwas ins Spiel, was bei der Beurteilung von
Großsiedlungen allzu oft ausgeblendet wird: ihre
eigene Geschichtlichkeit. Wie wachsen die artifizi-
ellen Gebilde allmählich in das historische Gewebe
einer Stadt hinein? „Städte, die nicht langsamüber
Jahrhunderte entstanden, eignen sich kaum zum
Leben. Sich eine Stadt ausdenken zu wollen, ist
wie der Versuch, ein künstliches Lebewesen zu
erfinden.“ So oft dieser Zweifel auch zu hören ist,
greift er als Kritik doch zu kurz. Denn er unterstellt
die starre Unabänderlichkeit des Ausgangsplans.
Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Früher oder
später hat sich noch jede Neubaulandschaft un-
ter dem vitalen Alltag ihrer Bewohner verändert.
Was man braucht, ist nur etwas Geduld – damit
lebendige Vielfalt und anregende Komplexität
entstehen können, muss Zeit vergehen.
Da geht es der Moderne nicht anders als allen Epo-
chen davor: Wie lange hat es gedauert, bis aus
dem Mietskasernenblock, diesem urbanistischen
Schreckbild, das nostalgisch idealisierte Stadt-
modell unserer Tage werden konnte. (Übrigens:
Auch Gründerzeitviertel waren einst künstliche
Stadterweiterungen auf kahlen Feldern, also ei-
gentlich „Planstädte“!) Um sie für den Zeitgeist
verlockend zumachen, bedurfte es aber einer ent-
scheidenden Voraussetzung: Anpassung, Umbau!
Man kann die alten Häuser heute überhaupt nur
lieben, weil sie nicht mehr so sind, wie sie vom
Ursprung her einmal waren.
„Man sollte ruhig davon ausgehen, dass auch Plat-
tenbauten irgendwannAltbauten sind, dieman ent-
sprechend behandeln darf, ja behandeln sollte.“
Mit dieser Überzeugung gelang es dem Cottbuser
Architekten Frank Zimmermann sogar, ein Fertig-
teilhochhaus zu zerlegen und aus den Einzelteilen
sechs Stadthäuser neu zusammenzumontieren. Be-
ton ist eben kein Baustoff für die Ewigkeit. Längst
gehört die Verlegung vormals blinder Küchen und
Bäder ans Tageslicht zum Repertoire jeder halb-
wegs ambitionierten Modernisierung. Ob Mai-
sonettes oder Penthäuser mit Dachterrassen das
Wohnungsspektrumerweitern, hängt allenfalls von
zahlungskräftiger Nachfrage ab; bautechnisch sind
solche Umwandlungen inzwischen Routine. Wenn
aber die Betonsiedlungen des Sozialwohnungsbaus
sich genauso freizügig umgestalten lassen wie die
kolossalen Ziegelgebirge der Gründerzeit, sollte
einem neuerlichen Imagewandel eigentlich nichts
mehr imWege stehen.
Die Normalisierung der Planwelten der Moderne
– der industriellen Häuser wie auch des funktio-
nalistischen Städtebaus – ist die nächste uns ins
Haus stehende kulturelle Herausforderung, und
zwar von Le Havre bis Wladiwostok. Wer meint,
sich des ungeliebten Erbes durch einfaches Weg-
sprengen entledigen zu können, hat dessen rein
materielle Ausmaße vermutlich verdrängt. Damit
geht jedoch der Blick für die globaleDimension des
Problems verloren. Die globale Dimension ist die
ökologische: Auch die Bausubstanz derModerne ist
Ressource! Das wirft man nicht weg. Das baut man
um, und dann nimmt man es mit in die Zukunft.
1
Dankwart Guratzsch: Wer bestimmt, wie wir wohnen
wollen? In: DIE WELT vom 19. Juni 2012
Wandlung der großen Wohnsiedlung Nürnberg Nordostbahnhof durch Modernisierungsmaßnahmen
und beispielsweise Anbau von neuen Gebäudeteilen wie neue Laubengänge, Aufzüge und Balkone.
Nachverdichtung durch neue Penthousewohnungen und Aufstockungen durch hochwertige Attikawohnungen in
der Teichmattensiedlung in Lörrach.
Quelle: wbg Nürnberg GmbH Immobilienunternehmen
Quelle: Städtische Wohnungsbaugesellschaft Lörrach mbH
STÄDTEBAU UND STADTENTWICKLUNG
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8|2012