CM Controller magazin 3/03
Die Gesamtheit der hier nicht vollständig
skizzierten Interessenkonflikte zwischen
Industrie und Handel in den vier Marke-
ting-Mix-Bereichen ist so massiv, dass
der vor gut 10 jähren in den USA ent–
wickelte und mittlerweile zum Karriere–
thema gewordene Kooperationsansatz
des
Efficient Consumer Response
(ECR)
bisher in Deutschland praktisch nur im
Bereich der Logistik (Supply Chain
Management) Erfolge vorweisen kann.
Im zweiten Bereich des ECR-Ansatzes,
der Kooperation von Handel und Indu–
strie im gesamten Marketing (Category
Management , Demand Management)
übe r l age rn die Konfl ikte die Ko–
operationspotenziale. Vertrauen und Of–
fenheit als Basis jedes Kooperations–
modells sind bisher nicht erkennbar Hin–
zu kommt, dass eine wirkliche Marke–
ting-Kooperation zwischen Industrie und
Handel eine Fülle von firmenindividuellen
Bedingungen auf beiden Seiten zu be–
rücksichtigen hat und deshalb auch sehr
aufwändig ist. Von daher ist eher zu er–
warten, dass einzelne große Handelsun–
ternehmen mit einzelnen großen Indu–
strieunternehmen bei der Realisierung
von ECR langsame Fortschritte machen,
dass diese Handelsunternehmen aber
den gleichen Aufwand für die Koopera–
tion mit mittelständischen Industrie–
unternehmen scheuen, weil sie deren
Wohlverhalten zunehmend durch ihre
Nachfragemacht erzwingen können.
3. Nachfragemacht
Bis ca. Anfang der 70er )ahre war die
Industrie in den Konsumgütermärkten
der aktivere Teil und hatte die
vertikale
Marketingführerschaft
inne, der Handel
hatte im Distributionssystem den mehr
passiven Part als Verteiler der Produkte
der Industrie. Diese Zeit war vor allem
durch wachsende Märkte, eher kleine
Sortimente, begrenzte internationale
Beschaffungsmöglichkeiten, die Preisbin–
dung der zweiten Hand (bis 1973) und
eine große Zahl selbständiger Industrie-
und Handelsunternehmen gekennzeich–
net. Beide Seiten hatten Ausweichmög–
lichkeiten, sofern sie ein Kunde oder Lie–
ferant zu sehr unter Druck setzen wollte,
so dass i.a. ökonomisch akzeptable Kom–
promisse für beide gefunden werden
konnten. In den vergangenen Jahrzehn–
ten hat sich diese Situation dramatisch
gewandelt und in jüngerer Zeit weiter
verschärft: stagnierende Märkte, Über–
kapazitäten, Preiskämpfe im Handel, sehr
geringe Ertragskraft, ein - im Vergleich
zur Industrie - weitaus höheres Tempo
des Größenwachstums der Handels–
un t e r nehmen und ihrer Einkaufs–
kooperationen sowie die schwierige kon–
junkturelle Lage kennzeichnen die aktu–
elle Struktur
Heute stehen vielfach wenige große
Handelsunternehmen einer in vielen
Märkten weiterhin überwiegend mittel–
ständischen Industrie gegenüber Im Le–
bensmittelhandel entfällt auf die top ten
ein Marktanteil von rund 85 %, wobei die
Discounter, die bekanntlich besonders
stark mit Handelsmarken operieren, wei–
ter Marktanteile gewinnen.
In der Lebensmittelindustrie mit ihren
rund 5 . 000 Unternehmen hat dagegen
ein durchschnittlicher Betrieb gut 100
Mitarbeiter und einen Jahresumsatz von
etwa 25 Mio. Euro. In der Nahrungs–
mittelindustrie (als Teil der Lebensmittel–
industrie) haben die 10 größten Herstel–
ler einen Marktanteil von ca. 12%.
W.a.W.: die Marktstruktur hat sich tief–
greifend gewandelt und dies hat - zu–
sammen mit den o.g. Entwicklungstrends
- zu einem deutlichen Machtübergewicht
des Handels geführt. Wenn z. B. ein Indu–
strieunternehmen mit einem Jahresum–
satz von 50 Mio. Euro mit einem Han–
delsunternehmen (oder einer Einkaufs–
kooperation) mit einem Jahresumsatz von
15 Mrd. Euro über ein Auftragsvolumen
von 10 Mio. Euro p.a. verhandelt, kann
man sich die Lage am Verhandlungstisch
leicht vorstellen. Und während der Han–
del mit global sourcing - vor allem bei
Me-too-Produkten - eine ganze Reihe von
Alternativen hat, den Industrielieferanten
zu ersetzen, ist dies umgekehrt aus der
Sicht des Industrieunternehmens außer–
ordentlich schwierig und kurzfristig
häufig gar nicht möglich.
Die Nachfragemacht des Handels besteht
in dieser Konstellation also darin, den
eigenen Willen gegen den Willen des
Industrielieferanten durchsetzen und
damit erheblichen Einfluss auf seine Er–
tragslage nehmen zu können. Dies ge–
schieht dadurch, dass das Handelsunter–
nehmen damit droht, einen Großauftrag
nicht oder nicht zu den vom Industrieun–
ternehmen gewünschten Bedingungen
zu erteilen oder den Lieferanten sogar
auszulisten. Der Handel verfügt damit
über die weitaus
stärkeren Droh-, Sankt-
ions- und Gratifikationspotenziale,
er
ist in einer Position erheblicher
Netto–
macht .
Andererseits ist er quasi gezwun–
gen, diese Nettomacht auch auszuspie–
len, denn er befindet sich seinerseits ge–
genüber der Gesamtheit der Konsumen–
ten in einer Käufermarktsituation und
steht unter massivem Ertragsdruck, den
er auf die Industrie weiterwälzt (Null–
summenspiele). Die Industrie sieht sich
sogar einem zweistufigen Käufermarkt
gegenüber, einem direkten (Handel) und
einem indirekten (Konsumenten).
Die geschilderten Entwicklungen haben
zu einem
Wechsel in der vertikalen
Marketingführerschaft
von der Industrie
hin zum Handel geführt.
In vielen Konsumgütermärkten kann man
heute
drei Gruppen von Industrieun–
t ernehmen
unterscheiden: die
erste
Gruppe ist die der Herstel ler von
Renommiermarken (z. B. Nestle, Procter
& Gamble, Ferrero, Unilever Henkel, aber
auch eine Reihe von Mittelständlern), die
aufgrund ihrer Innovationskraft und ih–
rer sehr hohen Aufwendungen für die
Kommunikationspolitik bisher noch eine
relativ autonome Strategie gegenüber
dem Handel betreiben können, was sich
auch in ihrer positiven Ertragssituation
zeigt. Aber auch diese Gruppe ist keines–
wegs auf Dauer ungefährdet, wie z. B.
die Auslistung von Nestle bei Aldi gezeigt
hat.
Die
zweite
Gruppe ist diejenige, die auf
praktisch allen Ebenen des Marketing-
Mix in Konflikten mit dem Handel liegt,
dabei aber langsam ins Hintertreffen ge–
rät. Sie hat sich jedoch bisher erfolgreich
dagegen wehren können, ganz oder über–
wiegend zum Handelsmarkenprodu–
zenten oder zum Produzenten von
Exklusivartikeln für einzelne Handels–
unternehmen zu werden. Diese Gruppe
tut sich zunehmend schwerer, im Bereich
der echten Produktinnovationen mit den
internationalen Industriekonzernen mit–
zuhalten. In reifen Märkten sind Produkt–
innovationen schwieriger, teurer und sel–
tener und sie werden schneller kopiert.
Ein mittelständisches Industrieunter–
nehmen kann nicht 10 % seines Umsatzes
für Entwicklung ausgeben und weitere
5% , um die Innovationen kommuni–
kationspolitisch zu forcieren. Wie soll ein
mittelständischer Nahrungsmittelher–
steller mit einem Unternehmen wie Nestl§
auf Dauer mithalten können, das welt–
weit ca. 2 . 500 Mitarbeiter in der Produkt–
entwicklung beschäftigt?
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