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grundls grundgesetz
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wirtschaft + weiterbildung
03_2014
„Du bist ein Egoist!“ „Wieso?“ „Weil du dich nur
um dich kümmerst!“ „Und um wen sollte ich mich
mehr kümmern?“ „Na, um mich natürlich!“ Ego-
ismus ist weder gut noch schlecht. Es ist ein Zwi-
schenschritt auf dem Weg, über sich selbst hinaus-
zudenken. Schade, dass viele das nie erleben.
Altruismus ist der Gegenpol des Egoismus. Das
bekannteste Beispiel: Mutter Teresa. Zwei Jahre
nach dem Tod wurde sie von Papst Johannes Paul II.
selig gesprochen. Zu Recht. Und schneller als je ein
Mensch zuvor. Natürlich ist sie auch nicht über jede
Kritik erhaben.
Beim Umsetzen ihrer spartanischen Haltung soll
sie sehr hart gewesen sein. Ein Gedankenspiel: Ist
jemand egoistisch, der tiefe Erfüllung erfährt, weil
er den Armen hilft? Interessant, nicht wahr? Meine
These lautet: In jemandem mit der Stärke einer
Mutter Teresa wohnt ein kraftvolles Ego, das sich
zum WIR transformiert hat.
Wieder bewegen wir uns zwischen zwei Polen. Ich
und Wir – Eigeninteresse und der größere Zusam-
menhang, mit dem wir uns verbinden und dem wir
uns verpflichtet fühlen. Dazu eine Analogie: Ein
Fußballspiel dauert 2 x 45 Minuten. In der ersten
Halbzeit spielen wir auf ein Tor, das wir ICH-Tor
nennen. Nach dem Seitenwechsel der Halbzeit
wird auf das WIR-Tor gespielt. Wer aber die Halbzeit
verpasst, schießt in der zweiten Hälfte nur Eigen-
tore. Und wer das ICH in der ersten Halbzeit nicht
gestärkt hat, bleibt in der zweiten oft erschreckend
schwach.
Eltern mit älteren Kindern haben es erlebt: die
Familie als Hort der Harmonie, solange die Kinder
klein sind. Dann nabeln sie sich ab, profilieren
sich, begehren auf bis zur Rebellion. Schließlich
entdecken sie ihre neue ICH-Stärke und nehmen
ihren Platz in der Familie wieder ein. Was aber pas-
siert, wenn schwache Eltern die Ich-Findung durch
Unterdrückung oder Verzärtelung blockie-
ren? Die Teenager finden ihren Platz nicht.
Weil sie ihre Position in einer Gemein-
schaft nicht bestimmen können, ersetzt
ihr gekränktes Ego den Gemeinsinn. So
entsteht statt gesundem Eigeninteresse
krankhafter Egoismus, der Mitmenschen
zu Sklaven ihrer Selbstsucht degradiert.
Deswegen: Ohne starkes ICH kein starkes WIR.
Familie, Arbeitsplatz oder Verein: Fördern Sie ein
starkes ICH und fordern Sie das WIR ein. Als kluge
Führungskraft wollen Sie souveräne Mitarbeiter
mit einem starken Ich und berechtigtem Eigeninte-
resse (gesunder Egoismus). Denn jedes WIR profi-
tiert von der Stärke seiner Teile, wie das Orchester
von seinen starken Solisten. So wird „Teamgeist“
keine willkommene Ausrede für Lemminge, Mitläu-
fer, Drückeberger und Duckmäuser.
Eine schwache Führungskraft kann die Ich-Werdung
anderer nicht aushalten. Eine souveräne Füh-
rungskraft ist virtuos und blitzschnell darin, beide
Sichtweisen einzunehmen und zu leben: Das ICH
und das WIR. Überzogene Egoisten sind Menschen
mit einem schwachen Ich, die sich nicht in etwas
Größeres einbringen können. Nur wenn ein Mensch
sein ICH gefunden hat, besitzt er genug innere
Größe, sich anderen zuzuwenden – ohne Angst, zu
kurz zu kommen. Er weiß, es ist genug für alle da.
Und er versteht, was Helen Keller meinte, als sie
sagte: „Ich weinte, weil ich keine Schuhe hatte, bis
ich einen traf, der keine Füße hatte.“
Paragraf 23
Über das Ich
zum Wir
Boris Grundl ist Managementtrainer, Unternehmer, Autor sowie Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt,
ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Grundl gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung).
Sein neues Buch heißt: „Die Zeit der Macher ist vorbei. Warum wir neue Vorbilder brauchen.“ (Econ Verlag, 2012, 304 Seiten, 19,99 Euro).
d
Boris Grundl
Statt gesundem Eigeninteresse plagt
viele ein krankhafter Egoismus, der
sie zum Sklaven ihrer Selbstsucht
degradiert.