Seite 53 - wirtschaft_und_weiterbildung_2014_02

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02_2014
wirtschaft + weiterbildung
53
Intervention wird eingeleitet mit dem
Satz: „Ich möchte Sie einladen, ein klei-
nes Gedankenspielt mit mir durchzuspie-
len, das Ihnen dazu verhelfen kann, dass
Sie ein paar Ideen bekommen, wie Sie in
Zukunft souveräner reden können.“ Laut
Wehrle ist es wichtig, von einem „Gedan-
kenspiel“ (und nicht von einem Experi-
ment) zu reden, da das Wort „Spiel“ zum
Ausdruck bringt, dass jetzt etwas Fantasie
gefragt ist.
Wunderfrage auf den Beruf
zuschneiden
Die eigentliche Wunderfrage lautet dann:
„Stellen Sie sich vor, Ihre Forschungsab-
teilung hat ein völlig neues Medikament
entwickelt – ein Medikament, das mit
100-prozentiger Sicherheit gegen jede
Redeangst wirkt. Wer es einnimmt, kann
reden und unbeschwert sein, egal vor wie
vielen Leuten er reden muss. Und nun
dürfen Sie als einer der ersten dieses Me-
dikament benutzen. Stellen Sie sich bitte
vor, Sie haben dieses Medikament einge-
nommen und langsam, ganz langsam,
beginnt es zu wirken. Zunächst wirkt es
etwa nach einer halben Stunde zu zehn
Prozent und nach einer Stunde zu 20 Pro-
zent und so weiter. Wenn Sie für eine kli-
nische Studie befragt würden, was würde
sich bei Ihnen zuerst verändern, wenn
die Wirkung des Medikaments einsetzt?“
(Wehrle: „Bei der Wunderfrage darf man
nicht sofort zur Lösung des Problems vor-
dringen, denn dadurch würde der Prob-
lemdruck nur erhöht.“)
Nachdem der Klient gesagt hat: „Ich
glaube, wenn das Medikament zu zehn
Prozent wirkt, würde ich nicht mehr so
viel ans Reden denken“, fragt der Coach
Schritt für Schritt bis zur 100-Prozent-
Wirkung nach. Im konkreten Fall sagt der
Klient, dass er bei einer 20-prozentigen
Wirkung schon mal bei einem Meeting
zwischendurch spontan das Wort ergrei-
fen würde. Als das Gespräch bei 80 Pro-
zent angekommen ist, wirkt der Klient
überraschend locker und sagt: „Ich fühle
mich auf dem erreichten Niveau ausge-
sprochen wohl. Hier kann die Wirkung
des Medikaments aufhören.“
Die Intervention endet damit, dass der
Klient in eine Situation hineingeführt
wird, in der er sich vorstellt, am Redner-
pult zu stehen und eine Rede vor einem
begeisterten Publikum zu halten. Wehrle:
„Stellen Sie sich vor, im Publikum sitzen
jetzt Forscher, die beurteilen sollen, ob
das Medikament wirklich funktioniert.
Beschreiben Sie doch mal, was könnten
diese Menschen an Ihnen beobachten?“
Und während der Klient alles aufzählt,
was er an Positivem an sich beobachtet,
merkt der Coach zum ersten Mal, wie
flüssig, intelligent und geradezu druckreif
der Mann reden kann.
„Coaching sollte spielerischer werden“,
fordert Wehrle. Das Beispiel (die Wun-
derfrage war auf den Beruf des Klienten
hin maßgeschneidert und mit einer Ska-
lierungsfrage verknüpft worden) zeige,
dass der kreative Umgang mit den Coa-
ching-Formaten Menschen voranbrin-
gen könne, die man üblicherweise als
„schwierig“ einstufen würde. Wenn sich
jemand individuell angesprochen fühle
und mitbekomme, dass sein Coach kre-
ativer sei als andere Coachs, dann werde
sich der Klient auch anstrengen und mehr
Mühe geben, um nach für ihn gangbaren
Lösungen zu suchen. Und er werde be-
reitwilliger neue Wege einschlagen, die er
bislang noch nicht ausprobiert habe, so
die Hoffnung von Wehrle.
Die „Nebenwirkungen“ des
Erfolgs in Grenzen halten
Weitere Fragen, die das Thema noch
vertieft hätten, wären möglich gewesen.
Etwa: „Stellen Sie sich vor, dieses Medi-
kament wäre Ihnen schon früher einmal
insgeheim in ein Getränk gemischt wor-
den und hätte seine Wirkung stillschwei-
gend entfaltet, bei welcher Rede könnte
das gewesen sein und woran hätte man
bemerken können, dass heimlich nach-
geholfen worden war?“ Oder auch: „Mal
angenommen, Sie könnten durch das
Medikament reden wie ein Gott, welche
Risiken und Nebenwirkungen könnte das
haben und was würde auf dem Beipack-
zettel stehen?“ Zu den Nebenwirkungen
merkte der Klient an, dass in dem Augen-
blick, wo er zu viele Reden halten würde,
seine eigentliche Arbeit darunter leiden
würde. Er legte freiwillig fest, nur eine be-
stimmte Anzahl von Auftritten pro Monat
zu absolvieren.
Für Wehrle war dies ein Beispiel, mit
welcher Leichtigkeit ungewöhnliche Fra-
gen einen Coaching-Prozess beflügeln
können. Der Mehraufwand dafür sei
gerechtfertigt. „Unterm Strich ist es viel
mehr Arbeit, mit Dutzenden von Stan-
dardfragen gegen die Wand zu laufen, als
mit originellen Fragen neue Türen zu öff-
nen“, fasst der Coach seine Erfahrungen
zusammen.
Martin Pichler
Definition.
Die Wunderfrage ist eine von Steve de Shazer
und Insoo Kim Berg entwickelte „Als-Ob-Frage“. Ziel ist es,
den Coachee durch die Art der Fragestellung in eine leichte
Trance zu versetzen und dann mit ihm zusammen neue
Möglichkeiten anzudenken, ein Problem zu lösen.
Auf dem Internetportal „NLPedia“ findet sich ein Beispiel
für die Standardversion der klassischen Wunderfrage:
„Angenommen, es wäre Nacht und Sie legen sich schla-
fen. Während Sie schlafen, geschieht ein Wunder, und das
Problem, das Sie belastet, ist gelöst. Da Sie geschlafen
haben, wissen Sie nicht, dass dieses Wunder geschehen
ist. Was wird Ihrer Meinung nach am Morgen das erste
kleine Anzeichen sein, welches Sie darauf hinweist, dass
sich etwas verändert hat?“
Quelle: NLPedia
Wunderfrage im Original