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wirtschaft + weiterbildung
01_2014
Herr Zimmermann, Ihr Verband sucht
bewusst die Nähe zu den Neurowissen-
schaften. Warum?
Bernhard A. Zimmermann:
Ein Teil der
Mission der International Coach Federa-
tion bezieht sich auf die Förderung der
Wissenschaft, um die Professionalisie-
rung von Coaching voranzutreiben. Die
rasant voranschreitende Verbesserung
der Methoden zur Untersuchung ver-
schiedenster Gehirnareale und deren Ver-
netzung ermöglicht es Wissenschaftlern,
die Funktionalitäten, Verknüpfungen und
Steuerungsmechanismen innerhalb unse-
rer Gehirne besser zu verstehen und zu
erklären.
Manche Erkenntnisse bestätigen auf einer
soliden wissenschaftlichen Basis das, was
in der Vergangenheit durch Empirik erar-
beitet wurde. Andere Entdeckungen wie-
derum fordern uns heraus, über bisherige
Ansätze hinsichtlich der Verhaltensände-
rung eines Menschen neu nachzudenken.
Natürlich sind die Neurowissenschaften
nicht die einzige Wissenschaft, die eine
hohe Relevanz für die Arbeit als Coach
hat: Sowohl die Psychologie als auch die
Sozialwissenschaften haben ebenfalls
wesentlichen Einfluss, wenn es um beste-
hende oder neue Coaching-Ansätze geht.
Die ICF Deutschland hat in diesem Jahr
erstmals ihre „Summer University“ aus-
gerichtet – eine Veranstaltung, bei der
die Themen Coaching und Neurowissen-
schaften miteinander verknüpft wurden.
Welche Erkenntnisse haben Sie hierbei
für sich gewinnen können?
Zimmermann:
Gerade zum Thema Selbst-
steuerung beziehungsweise Selbstbeherr-
schung konnte ich für mich als Coach
sehr konkrete Ansatzpunkte hinsichtlich
der Hypothesenbildung bei verschiede-
nen Coaching-Aufträgen, an denen ich
derzeit arbeite, ableiten. Für Teile meiner
bisherigen, vornehmlich auf meiner In-
tuition aufgebauten Hypothesen konnte
ich durch die wissenschaftlich fundierten
Erkenntnisse in puncto Selbststeuerung
ein solides Praxis-Know-how aufbauen.
Durch ein tieferes Verständnis der Me-
chanismen, die der Selbststeuerung
zugrunde liegen, haben sich für mich
weitere Interventionsfelder ergeben, wo-
durch das Coaching insgesamt noch ef-
fektiver wurde.
Welche Vorteile haben Coachs und auch
die Coachees von den neuen neurowis-
senschaftlichen Erkenntnissen? Wie brin-
gen diese vor allem die Personalchefs in
den Unternehmen und die Führungsper-
sönlichkeiten in der Linie weiter?
Notebaert:
Ein genauer Einblick, was in
bestimmten Situationen in unserem Ge-
hirn geschieht, hilft uns zu erkennen,
welche Verhaltensstrategie eine höhere
Chance für eine positive Veränderung
in einem Menschen bietet. Aus der For-
schung wissen wir nun, dass unsere Ka-
pazität zur Selbstbeherrschung begrenzt
ist: Wenn man bedenkt, dass wir unge-
fähr drei bis vier Stunden am Tag damit
verbringen, Selbststeuerung auszuüben,
finden wir uns häufig in einem Zustand
wieder, in dem wir nicht über genügend
Selbstbeherrschung verfügen, um mit
uns selbst und anderen zurechtzukom-
men. Dieser Zustand, den auch HR- und
Führungsverantwortliche kennen sollten,
wird auf Englisch „Ego-Depletion“ ge-
nannt.
In anspruchsvollen Situationen zu arbei-
ten, verlangt ein hohes Maß an Selbst-
steuerung. Das bedeutet, dass Mitarbeiter
sich häufig im Zustand der „Ego-Deple-
tion“ befinden. Ein Teammitglied, das
aufgrund eines Mangels an Selbstbe-
herrschung nicht genügend leistet, wird
man ab einem bestimmten Punkt nicht
mehr mit der Aussicht auf einen finan-
ziellen Bonus oder mit dem Hinweis auf
die Wichtigkeit des Projekts motivieren
können. Als Führungskraft ist es meiner
Meinung nach daher unerlässlich, den
Zustand der „Ego-Depletion“ in einem
Team zu erkennen und möglichst zu ver-
meiden. Schließlich muss der HR-Verant-
wortliche wissen, wie „Ego-Depletion“
neutralisiert werden kann und sich die
Selbststeuerungsressourcen in seinem
Team fördern lassen, denn nur dann kann
das Team sein volles Potenzial entfalten.
Nicht zuletzt ist das Wissen rund um die
Selbststeuerung ein unerlässlicher Be-
standteil von Präventionsprogrammen
gegen Burn-out.
Zimmermann:
Ich bin überzeugt, dass
Coachs mit den neuesten Erkenntnissen
aus den Neurowissenschaften sowohl in
der Hypothesenbildung als auch in ihren
Coaching-Interventionen neue Wege be-
schreiten können. Hierzu gehört aber
auch der Mut, sich selbst zu hinterfragen
und bewährte Rezepte infrage zu stel-
len. Nehmen wir zum Beispiel das von
Dr. Notebaert erwähnte Phänomen der
„Ego-Depletion“: Ein Coach sollte sich
die Frage stellen, ob er seinem Coachee
mit mehreren halbstündigen Gesprä-
chen vielleicht effizienter helfen kann
als mit dreistündigen Sitzungen. Erst
recht, wenn man bedenkt, dass einige
Coachees im allgegenwärtigen erhöhten
Leistungsdruck möglicherweise nahe an
der Grenze zur „Ego-Depletion“ sind und
somit auch an der Grenze der eigenen
Veränderungsfähigkeit, für die mitunter
eine gehörige Portion Selbststeuerung be-
nötigt wird.
Dr. Notebaert, Sie sind selbst auch als
Coach tätig und sagen: Selbstbeherr-
schung kann man lernen. Verraten Sie
uns Ihr Rezept?
Notebaert:
Kurz zusammengefasst beste-
hen diese Trainings aus drei Teilen. Zu-
nächst ist es notwendig, dass man Selbst-
steuerungskonflikte im Alltag als solche
erkennt. Dies bedeutet in erster Linie,
sich selbst hinsichtlich der eigenen spon-
tanen Emotionen und Verhaltensweisen
zu verstehen. Als Zweites ist es wichtig
zu lernen, welche Strategien am besten
wirken, um Selbststeuerungskonflikte
aufzulösen und vor allem negative Emo-
tionen zu regulieren. Die Neurowissen-
schaft konnte hierfür einige erfolgreiche
Strategien aufzeigen, die allerdings den
Präfrontalkortex erfordern, auf den wir
im Zustand der „Ego-Depletion“ jedoch
nicht zurückgreifen können.
Zum Glück gibt es aber mittlerweile auch
Strategien, die erfolgreich Emotionen re-
gulieren und hierbei nicht auf den Prä-
frontalkortex angewiesen sind, die also
auch unter hohem Stress funktionieren.
Der letzte Teil meines Trainings basiert
auf aktuellen wissenschaftlichen Studien,
die zeigen, dass ganz unterschiedliche
Akte der Selbstkontrolle dasselbe neu-
ronale Netzwerk beanspruchen. Daher
sollten wir dieses Netzwerk in Zeiten,
in denen wir gut erholt und kontrolliert
sind, trainieren, um uns für jene Mo-
mente, in denen unsere Selbstkontrolle
in Gefahr ist, eine bessere Strategie zu-
zulegen.
Interview: Micha Spannaus
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