Seite 64 - wirtschaft_und_weiterbildung_2013_07-08

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grundls grundgesetz
64
wirtschaft + weiterbildung
07/08_2013
Kürzlich im Vieraugen-Coaching: Ein Zahnarzt
beklagt sich, dass er seine Traumfrau nicht findet.
Keine erfülle seine klaren Kriterien. Auf meine
Nachfrage, was die Auserwählte denn so mitbrin-
gen sollte, folgt ein Wunschzettel von der Länge
des Amazonas. Bei Kriterium Nr. 16 unterbreche
ich ihn und frage: „Welche dieser Eigenschaften
bringen Sie selbst in die Beziehung ein?“ Zuerst
verblüfftes Schweigen, dann blickt er mich über sei-
nen Brillenrand verloren an. „Was denken Sie“, lau-
tet meine nächste Frage, „was bringt mehr – eine
Traumfrau zu suchen oder selbst immer mehr ein
Traummann zu werden?“ Ich ernte Ratlosigkeit.
Was auffällt: Menschen wünschen sich DEN Traum-
partner, DEN idealen Chef, DEN perfekten Arbeits-
platz und DIE wundervollsten Kinder. Sie haben
eine lange Erwartungsliste, hinterfragen aber
kaum, inwiefern sie diese Ansprüche selbst leben.
Sie fragen sich, was habe ICH davon, dass es die
anderen gibt, statt umgekehrt. Sie sagen etwa:
Du Egoist, Du kümmerst Dich zu wenig um mich!?
Damit outen sie sich selbst als egoistisch. Was
sie selbst aus Charakterschwäche nicht leben,
werfen sie anderen vor. Oscar Wilde bemerkte
hierzu: „Moral ist die Krücke der Lahmen, mit
der sie auf die letzten Tanzenden einschlagen.“
Andere sollen ihnen das geben, was sie selbst
nicht einbringen wollen. So der Patient zum Arzt:
„Mach mich gesund, obwohl ich Kette rauche, eine
Couchpotato bin und Cola wie Wasser trinke.“ Zum
Partner: „Mach mich glücklich, obwohl ich bei Dir
immer nach Fehlern zum Beschweren suche.“ Der
Angestellte zum Chef: „Sorge für einen sicheren
Arbeitsplatz, obwohl ich mich bei freiwilligen Aufga-
ben in der hintersten Ecke verkrieche.“
In Unternehmen erkennen Sie diese Menschen
an ihrer Veränderungsresistenz in der Tiefe. Ihre
Haltung ist: Bevor ich etwas ändere, muss zuerst
ein anderer sich ändern. Auch viele Führungskräfte
sind so und an ihrer Vorwurfshaltung zu erkennen.
Stets wollen sie andere mehr in die Pflicht nehmen
als sich selbst. Sie demontieren gerne
die schwachen Ergebnisse öffentlicher
Personen. Sie genießen es, über schwä-
chelnde Fußballstars oder wackelnde
Politiker herzuziehen. Wie kann man
diese Typen heilen? Sorgen Sie dafür,
dass diese Menschen härter an sich, an ihrer Ent-
wicklung arbeiten als an der Bewertung anderer.
Gerade unter dem Druck schwacher Ergebnisse
entsteht die Lust, über andere zu reden. Lassen
Sie diese Führungs- und Charakterschwäche nicht
zu! Bei Führungskräften ist das besonders schwer.
Da die Bewertung anderer ein Teil ihres Berufs-
bildes ist, hinterfragen sie sich selbst im Laufe der
Zeit immer weniger.
Bewerten Sie sich selbst konsequent härter als
alle anderen. Wenn ich Führungskräfte frage, ob
sie ihre Leistung genauso gnadenlos benoten wie
Philipp Lahms Leistung im Nationalteam, ernte ich
fragende Blicke. Es geht hier um ein hohes Niveau
gelebter Selbstverantwortung. Als auf einer pri-
vaten Party über kriselnde Prominente hergezogen
wurde, habe ich den Anklageführer gefragt, ob er
bei der Selbstbewertung genauso konsequent sei
wie bei anderen? Es wurde still und die Unterhal-
tung wechselte in eine andere, tiefere Richtung.
Es wurde ein schöner Abend mit erfüllenden
Gesprächen. Probieren Sie es – beruflich oder
privat. Es funktioniert!
Paragraf 17
Sei Du, was mir fehlt!
Boris Grundl ist Managementtrainer, Unternehmer, Autor sowie Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt,
ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Grundl gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung).
Sein neues Buch heißt: „Die Zeit der Macher ist vorbei. Warum wir neue Vorbilder brauchen.“ (Econ Verlag, 2012, 304 Seiten, 19,99 Euro).
d
Boris Grundl
Moral ist die Krücke der Lahmen,
mit der sie auf die letzten Tanzenden
einschlagen.
Oscar Wilde