Seite 32 - wirtschaft_und_weiterbildung_2013_01

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personal- und organisationsentwicklung
32
wirtschaft + weiterbildung
01_2013
suchten wir natürlich die Individualität
des Führungsgedankens in den Vorder-
grund zu stellen. Wir haben in einem
sehr mühsamen Prozess, der immer noch
andauert, Gespräche mit Führungskräften
über ihr Führungsverhalten initiiert. Es
ist wichtig, dass man hier jede einzelne
Führungskraft erreicht, damit sie selbst
über die eigenen Führungspräferenzen
nachdenken und sie reflektieren kann,
um überhaupt etwas im Verhalten ändern
zu können. Dies geschieht auch mithilfe
von kollegialer Beratung und Coaching
für jede Person. Das zugehörige dreitä-
gige Programm haben bisher 500 bis 600
Führungskräfte durchlaufen.
Diesen Ansatz haben Sie inzwischen
auch in ein Nachwuchsprogramm für
Führungskräfte überführt. Heißt das,
die Führungsphilosophie ist bei Lanxess
abschließend implementiert?
Liu:
Nein, wir sind gerade in die dritte
Phase der Einführung eingetreten: Wir
üben die Instrumente in der Praxis und
stärken die Anwendung im Alltag. Kon-
kret versuchen wir dabei, die Frage zu
klären, wie die Führungskraft aktiv die
Beziehung zum einzelnen Mitarbeiter
managen kann. Hier gehen wir nun auch
endgültig weg vom Konzept des jähr-
lichen Mitarbeitergesprächs.
Warum?
Liu:
Wir sind fest davon überzeugt, dass
nicht ein bestimmtes Format die Bedeu-
tung eines Gesprächs determiniert. Was
die meisten Unternehmen hier praktizie-
ren ist im Wesentlichen das Folgende: Sie
sehen das Mitarbeitergespräch als das
wichtigste Gespräch im ganzen Jahr an.
Darauf müssen sich die Führungskräfte
und ihre Mitarbeiter umfassend vorberei-
ten, unter anderem, indem sie die Technik
erlernen, die es für das meist Software-
gestützte Feedback braucht. Zudem muss
das Gespräch hinterher noch nachbereitet
und dokumentiert werden. Bei Lanxess
fragten wir uns aber, was passiert, wenn
eine Führungskraft in diesem Moment
des Gesprächs nicht gut aufgelegt ist?
Oder wenn der Mitarbeiter gerade eine
schwierige Phase durchläuft und sich
nicht richtig auf das Gespräch und die
Vorbereitung konzentrieren kann? Ist es
nicht viel wichtiger, dass die Beziehung
zwischen Mitarbeiter und Chef dyna-
misch und nicht statisch auf einen Ter-
min fokussiert ist – vom ersten bis zum
letzten Tag der Zusammenarbeit?
Und Ihre Antworten auf diese Fragen?
Liu:
Wir sind gerade dabei, das einmalige
Gesprächsformat abzuschaffen. Unser
Ziel, an dem wir gerade arbeiten, ist es,
eine Art Tagebuch, sozusagen ein Tage-
Beziehungsbuch, einzuführen.
Wie soll das konkret aussehen?
Liu:
Wenn zum Beispiel ein Mitarbeiter
neu ins Team kommt, sollen dieser Mit-
arbeiter und seine Führungskraft ein sol-
ches elektronisches Tagebuch erhalten.
Dieses Buch kann nur von diesen beiden
Personen eingesehen werden – auf keinen
Fall von einer weiteren Führungskraft,
Kollegen oder gar der Personalabteilung.
Die beiden nutzen das Buch dann, indem
sie sich zu Beginn der Zusammenarbeit
zusammensetzen, sich über gemeinsame
Spielregeln zum Beispiel für das Verhalten
in Konfliktsituationen austauschen und
diese Spielregeln in dem Buch festhalten.
Später ist es natürlich möglich, diese neu
zu diskutieren und zu ändern. Der Effekt,
den wir dadurch erreichen wollen: Sobald
ein Störgefühl zwischen Mitarbeiter und
Führungskraft auftritt, wird dies nicht
unter den Teppich gekehrt, sondern da-
rüber gesprochen. Kommt man dann zu
einem Konsens, kann man das im Buch
festhalten. Kommt man nicht zu einem
Konsens, kann man das auch aufschrei-
ben und später erneut darüber reden.
Und wenn ein Mitarbeiter nicht so
gesprächsbereit oder zugänglich ist?
Liu:
Dann muss die Führungskraft sich
auf diesen Mitarbeiter neu einstellen
und die Gespräche langsam beginnen.
In jedem Buch steht etwas anderes. Das
ist hochindividuell. Und genau das ist es,
was ich als „Management live“ oder ge-
lebte Führung bezeichne.
Wenn das institutionalisierte Mitarbeiter-
gespräch wegfällt und die Personalabtei-
lung das Tagebuch nicht einsehen kann,
geht damit nicht ein großer Kontrollver-
lust der Personalabteilung einher?
Liu:
Nein. Vertrauen in die Führungskraft
und die Mitarbeiter ist die beste Kontrolle
– besser als jede numerisch getriebene.
Zudem: Vertrauen reduziert die Komple-
xität und stärkt die Qualität des täglichen
Miteinanders. Von beiden profitiert letzt-
endlich auch die Personalabteilung.
Aber Sie müssen doch trotzdem einen
Überblick über die Belegschaft, deren
Kompetenzen und Leistung haben.
Liu:
Die haben wir auch. Wir führen
natürlich weiterhin Analysen in der Be-
legschaft durch, anhand derer wir einen
guten Überblick bekommen. Aber dafür
müssen wir das Tagebuch nicht einsehen.
Welche Analysen sind das genau?
Liu:
Wir analysieren zum Beispiel bei
der jährlichen Gewinnausschüttung des
Unternehmens, wer sie nicht erhält. Das
sind Mitarbeiter, die meistens schon eine
Abmahnung erhalten haben und ihren
Führungskräften dadurch auffallen, dass
sie vorsätzlich nicht ausreichend Leis­
tung zeigen. In der Regel sind das etwa
ein Dutzend Mitarbeiter. Die meisten von
ihnen scheiden in der Folge leistungsbe-
dingt aus dem Unternehmen aus. Es gibt
auch Beispiele von Mitarbeitern, die dies
als Anlass nehmen, um sich wieder zu
verbessern. Das kontrollieren wir schon.
Genauso analysieren wir das Vergabever-
halten der Führungskräfte bei der indi-
viduellen Leistungszahlung. Wir wissen
zum Beispiel, dass sich der finanzielle
Spielraum für die Auszahlung in den
meisten Fällen zwischen einem und zehn
Prozent des Jahresgehalts bewegt. Einen
Maximalwert gibt es nicht – es gibt auch
viel höhere Leistungszahlungen. Und wir
legen natürlich einen Rechenschaftsbe-
richt gegenüber den Arbeitnehmerver-
tretern und dem Management ab. Unsere
Führungsphilosophie geht nicht mit Kon-
trollverlust, sondern mit Vertrauens- und
Motivationsgewinn einher.
Interview: Kristina Enderle da Silva
„Wir haben keinen Kontrollverlust, sondern einen
Vertrauens- und Motivationsgewinn.“
Zhengrong Liu
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