Seite 64 - wirtschaft_und_weiterbildung_2013_11-12

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grundls grundgesetz
64
wirtschaft + weiterbildung
11/12_2013
„Warum reden Sie, wenn Sie reden?“, frage ich in
die Runde der Seminarteilnehmer. Ruhe, Schwei-
gen und Nachdenklichkeit sind die Antwort. „Jeder
hat das Recht, zu sagen, was er denkt“. Ein wich-
tiger Grundpfeiler der Demokratie. Recht, aber
auch Pflicht: Themen zu durchdenken und auf den
Punkt zu bringen. Viele schärfen ihren Kindern ein,
erst zu denken und dann zu reden. Im Job werden
diese Eltern selbst zum Kind, das mit unverdauten
Gedanken um sich wirft. Verbale Inkontinenz als
Zeitfresser.
Zwei Pole, zwei Probleme. Zu viel oder zu wenig
reden. Der eine, ein Wasserfall, der die Anwe-
senden benutzt, um sich selbst zu finden. Mono-
log statt Dialog. Der andere, ein unscheinbarer
Schweiger. Dieser möchte sich selbst schützen
und wird missverstanden. Das Plappermaul gibt
jedem Impuls aus dem Stammhirn nach und lässt
die Großhirnrinde außen vor. Der Zungenfaule lässt
sich vom Großhirn dominieren und scheut das
Risiko. Zu viel oder zu wenig Kontrolle. Die Lösung
nennt Aristoteles die goldene Mitte.
Auch professionelle Redner scheitern an mangeln-
dem innerem Gleichgewicht. Motive wie beliebt
sein oder gut dastehen wollen sind aber immer ein
Verrat an der Mission, andere zur Verantwortung
zu führen. Wer vom Publikum geliebt werden will,
kompensiert mangelnde Liebe bei sich und in sei-
nem Umfeld. Die Zuhörer werden nicht gefordert,
sondern eingeschleimt. So missbraucht man das
Rednerpult, um seinen eigenen Selbstwert auf-
zubauen. Das Ergebnis sind seichte Wohlgefühle
ohne Tiefgang und ohne nachhaltige Wirkung. Mit
der Befähigung und dem Aufruf zur Verantwortung
hat das nichts zu tun.
William Somerset Maugham sagte: „Die Natur ist
wirklich weise: Der Mensch hat zwei Ohren und nur
eine Zunge. Er sollte eben doppelt so viel hören
wie reden.“ Das ist das Geheimnis starker Kommu-
nikatoren. Sie reden, um in der Tiefe zu verstehen.
Sie formulieren kraftvolle Fragen. Bevor sie sich
äußern, haben sie den anderen Standpunkt und
dessen Argumente tief durchdrungen. Verstehen,
ohne einverstanden sein zu müssen – das ist ihre
Kunst! „Fragen sind immer der Mühe wert, Ant-
worten nicht immer“, bemerkte Oscar Wilde. Des-
wegen ist das, was sie sagen, von großer Stärke,
Dichte und Wirkung.
Der wichtigste rhetorische Tipp? Beherrsche Dein
Thema so gut, dass Du es nach einer Flasche
Whiskey noch drauf hast! Wer über seine Inhalte
beim Reden nicht nachdenken muss, ist ganz beim
Publikum. Das spürt innerhalb weniger Sekunden,
ob jemand wirklich weiß, wovon er spricht. Eine
sauber gezielte Zwischenfrage macht den Blender
zum Stammler. Rhetorik wird zum zahnlosen Tiger,
wenn man seine Materie nicht beherrscht.
Verstehendes Ringen um kraftvolle Ant-
worten versus Selbstdarstellung und
Blendwerk. Das ist die Wahl, wenn jemand
das Wort ergreift. Angela Merkels Sieg bei
der Bundestagswahl war auch ein Sieg
des Verstehens und des Nachdenkens vor dem
Reden. Steinbrücks „klare Kante“? Beeindruckend,
aber für das Volk in Summe nicht überzeugend.
Ganz egal, wo man politisch steht: Nicht die Laut-
stärke hat gewonnen, sondern der Nachhall von
Verstehen und Durchdenken in den Köpfen. Refle-
xion schlägt Artikulation. Ein Prinzip starker Füh-
rung lautet: Verstehe! Zusammenhänge, Ursachen,
Motive, Menschen. Dann erst rede!
Paragraf 20
Reden ist Silber,
Verstehen ist Gold!
Boris Grundl ist Managementtrainer, Unternehmer, Autor sowie Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt,
ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Grundl gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung).
Sein neues Buch heißt: „Die Zeit der Macher ist vorbei. Warum wir neue Vorbilder brauchen.“ (Econ Verlag, 2012, 304 Seiten, 19,99 Euro).
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Boris Grundl
Merkels Sieg war auch ein Sieg des
Nachdenkens vor dem Reden.