Seite 20 - wirtschaft_und_weiterbildung_2011_04

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wirtschaft + weiterbildung
04_2011
des Lebens zu lenken. Bis dahin habe die
Wissenschaft vor allem das untersucht,
was schief gehen könne. Was gut gehen
könne, habe man Esoterikern und Reli-
gionen überlassen. Ruch geht es darum,
die positiven Aspekte der Psyche wissen-
schaftlich zu untersuchen. „Aber deshalb
verliere ich meine kritische Einstellung
nicht“, so Ruch. Allerdings komme man
bei der „Positiven Psychologie“ schnell in
einen Bereich, in dem zahlreiche fragwür-
dige Gruppierungen agierten. Schließlich
hätten sich bislang vor allem Sekten, Reli-
gionen oder Esoteriker mit der Frage nach
dem Glück beschäftigt.
Ruch hat den von Martin Seligman
und Christopher Peterson entwickelten
Test „Values in Action Classification of
Strengths“ (VIA) für den deutschspra-
chigen Raum adaptiert. Dieser Test ist
Charakterstärken wie zum Beispiel Neu-
gier, Ehrlichkeit oder Vorsicht, die wiede-
rum sechs hierarchisch höherstehenden
Tugenden – wie Weisheit und Wissen,
Menschlichkeit oder Transzendenz – zu-
geordnet werden können. Erfahrungsge-
mäß habe jeder Mensch etwa drei bis sie-
ben sogenannter Signaturstärken, erklärt
Ruch. Das seien die Stärken, die ihn als
Person zu etwas wirklich Einzigartigem
machten. Eine Studie habe gezeigt, wie
diese Stärken mit dem Glück zusammen-
hängen. Testpersonen sollten über zwei
Wochen ihre am stärksten entwickelte
Stärke auf neue Art und Weise einsetzen.
Das habe einen nachweisbaren Effekt auf
die Zufriedenheit der Testpersonen ge-
habt. Wer also sein Leben in Richtung sei-
ner Signalstärke ändere, sei zufriedener,
so der Psychologieprofessor.
Gallup nicht sehr erfolgreich in
Deutschland
Setze man im Berufsleben gar gezielt auf
seine am höchst bewertete Stärke, dann
ermüde man nicht, lerne schneller und
erlebe ein Flow-Gefühl. Soll ein Unter-
nehmen seine Mitarbeiter also auffor-
dern, den Stärkentest zu machen? Wäre
das nicht schon ein Entmündigen?, fragt
Ruch und plädiert dafür, den Test nur frei-
willig anwenden zu lassen. Während der
VIA in wissenschaftlichen Zeitschriften
publiziert wurde und Experten damit
einen Eindruck von den Gütekriterien des
Tests bekommen, macht das Gallup Insti-
tut, ein großer Unterstützer der „Positiven
Psychologie“ in den USA, aus seinem Test
„Strengthfinder“ ein großes Geheimnis.
„Daten zu dem Test werden bewusst
nicht veröffentlicht“, erklärt Anke Pfei-
fer, zuständig für die Pressearbeit bei der
Gallup GmbH in Berlin. Schließlich solle
der Test doch verkauft werden. Testteil-
nehmer müssen übrigens zustimmen,
dass ihre persönlichen Angaben in den
USA gespeichert und bearbeitet werden
– auch angesichts des dort sehr laschen
Datenschutzes.
Der Strengthsfinder umfasst insgesamt
34 „Talent-Leitmotive“ wie etwa Anpas-
sungsfähigkeit, Selbstbewusstsein oder
R
Wunschdenken sucht wissenschaftlichen Segen
Ideologie-Kritik.
In ihrem Buch „Smile or Die“ geht die Autorin B. Ehrenreich auch auf das Ziel der
„Positiven Psychologie“ ein, sich als die „Wissenschaft vom Glück“ zu präsentieren und den Anhängern
die „richtigen“ Studien für eine überzeugende Argumentation zur Verfügung zu stellen.
Laut Ehrenreich fällt bei der „Positiven
Psychologie“ als erstes auf, dass sie das
Denken als ein Mittel instrumentalisiert,
um Gesundheit oder Erfolg herbeizuzwin-
gen. Mit „fragwürdigen Forschungen“ werde
ein Zusammenhang zwischen persönlicher
Einstellung und dem Immunsystem, dem
erreichbaren Alter oder gar einer Krebser-
krankung konstruiert. Die Botschaft: Optimi-
stische Menschen seien gesünder als pessi-
mistische. Die Mehrzahl der entsprechenden
Studien stelle jedoch nur Korrelationen her,
die nichts über Kausalitäten aussagten:
Sind die Menschen gesund, weil sie glück-
lich sind, oder sind sie glücklich, weil sie
gesund sind? Studien über positive Gefühle
und Gesundheit vernachlässigten oft insbe-
sondere den Einfluss von körperlichen Aktivi-
täten und anderen Faktoren auf die Gesund-
heit. Als widerlegt gilt nach Aussagen des
deutschen Krebsinformationszentrums die
Behauptung, Stress, Ärger oder unbewältigte
Konflikte seien Krebsauslöser und positives
Denken könne Krebs heilen. Pessimisten
lebten im Schnitt mit einer Krebsdiagnose
ebenso lange wie Optimisten. Gerade der
Irrglaube vom seelischen Selbstheilungs-
prozess sei auf methodische Mängel in
den Studien zurückzuführen. Außerdem
neigten viele Kranke dazu, eine zufällige
Heilung im Nachhinein ihrem Lebenswillen
zuzuschreiben. Gleichwohl helfe eine optimi-
stische Lebenseinstellung, die Belastungen
einer Krankheit besser zu verarbeiten. Das
Argument, selbst an etwas Schuld zu sein
und sich selbst durch positive Gedanken
aus einer Misere zu befreien, wurden laut
Ehrenreich auch begeistert von der ameri-
kanischen Oberschicht und der Wirtschaft
aufgegriffen, weil diese Einstellung soziale
Reformen überflüssig mache. Ehrenreich
berichtet von einem Unternehmensberater,
der völlig überrascht festgestellt habe, wie
sehr US-Geschäftsführer daran glaubten,
dass es ein „Gesetz der Anziehung“ gäbe,
wonach positive Gedanken Erfolg verurs-
achten. Wenn das nicht funktioniere, müsse
man einfach noch intensiver positiv denken
und den Erfolg „visualisieren“. Es gebe ein
großes Talent, mittels Selbsthypnose über
Schwierigkeiten und Gefahren hinwegzu-
sehen, was letztlich auch die Finanzkrise
gezeigt habe.
Martin Pichler
R