Seite 34 - personalmagazin_2013_08

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Management
_Inklusion
personalmagazin 08 / 13
W
egen des anhaltenden
Fachkräftemangels sollten
Unternehmen „mehr auf
Stärken als auf Schwä-
chen von Kandidaten und Mitarbeitern
schauen“, sagt Anka Wittenberg, bei
SAP in Walldorf für Diversity und Inklu-
sion zuständig. Exemplarisch soll diese
Kehrtwende mit Autisten gelingen. Laut
Wittenberg plant SAP, ab Herbst zahl-
reiche Autisten amHauptsitz inWalldorf
sowie in denUSAundKanada zu beschäf-
tigen. Bis dahin wolle das Unternehmen
ein „inklusives Umfeld“ sicherstellen, in
dem sich Autisten „wohlfühlen und ihre
Talente bestmöglich entfalten können“.
Fachwissen und logisches Denken
Schätzungen zufolge ist rund ein Pro-
zent der Bevölkerung von Autismus be-
troffen, Männer sechsmal häufiger als
Frauen. Diese Menschen zeigen kaum
Emotionen und meiden soziale Kontak-
te. Doch anders als oft angenommen
handelt es sich weder um abgedrehte
Typen wie die Filmfigur „Rain Man“
noch um lauter Genies. Denn die meis-
ten leben mit dem Asperger-Syndrom,
der milden Variante des Autismus.
Deren Potenzial rückt nunmehr in den
Fokus: „Sie verfügen häufig über sehr
gutes Fachwissen, denken logisch und
analytisch“, erklärt Matthias Prössl, der
die deutschen Geschäfte des dänischen
SAP-Partners Specialisterne von Mün-
chen aus koordiniert und Autisten für
das Softwarehaus rekrutiert. Detailver-
liebt und präzise gingen sie ihre Auf-
Von
Winfried Gertz
gaben an. Selbst bei Arbeitsschritten,
die mehrmals wiederholt werden müs-
sen, lasse ihre Konzentrationsfähigkeit
nicht nach. Ein idealer Fachbereich für
Autisten ist daher die IT. Prössl meint:
„Eine Eins in Mathematik, aber in der
Behindertenwerkstatt beschäftigt – die-
ses Unrecht soll für viele Menschen hof-
fentlich bald vorbei sein.“
Hintertürchen Zeitarbeit
Bei Vodafone in Düsseldorf arbeiten seit
März vier Autisten. Sie programmieren
und pflegen Datenbanken oder steuern
technische Referenzdaten. „Mit ihrer
Arbeitsleistung sind wir sehr zufrie-
den“, sagt Projektleiter Marc Ruckebier.
Überraschend sei ihre Fähigkeit, „neue
Lösungswege für bekannte Probleme“
zu finden. Angestellt sind die Mitar-
beiter bei dem Berliner IT-Dienstleister
Auticon, der Ende 2012 für das Projekt
mit Vodafone eigens eine Niederlassung
in Düsseldorf gegründet hat. Die Koope-
ration zwischen Vodafone und Auticon
funktioniert nach dem Modell der Arbeit-
nehmerüberlassung. Zwar ist es erklärtes
Ziel von Vodafone, die Autisten „bei Eig-
nung“ als Stammkräfte zu übernehmen.
Doch so bleibt ein Hintertürchen offen:
Sollte jemand sich in seinem Aufgaben-
gebiet nicht wohlfühlen oder Schwierig-
keiten haben, sich zu integrieren, „kann
er von Auticon herausgenommen, betreut
und für alternative Aufgaben vorgesehen
werden“, erläutert Ruckebier.
Insgesamt beschäftigt Auticon derzeit
bundesweit 22 Mitarbeiter. Am neuen
Standort München arbeitet eine Hand-
voll IT-Fachkräfte, unter anderem für
die Bayerische Landesbank. „Das Inte-
resse der Firmen, Autisten einzusetzen,
nimmt deutlich zu“, sagt Auticon-Nie-
derlassungsleiterin Carola von Peinen.
Treiber sind IT-Verantwortliche, die gute
Erfahrungen mit Autisten etwa im Soft-
waretest gesammelt haben. „Personaler
sind jedoch oft unbeholfen“, beobachtet
von Peinen. „Sie wissen nicht, wie sie
mit Autisten umgehen und was sie im
Vorstellungsgespräch fragen sollen.“
Defizite in der Personalarbeit
So löblich die Initiativen von SAP und
Vodafone in puncto Vielfalt und Integra-
tion auch sein mögen: Projekte, in denen
Autisten zum Einsatz kommen, laufen
an der Personalabteilung vorbei. Das ist
kein Ausweis von qualitativer Personal-
arbeit. Besteht tatsächlich die Absicht,
die Fachkräfte später zu übernehmen
und ihren Anteil an der Belegschaft zu
erhöhen, ist HR gleich in mehrfacher
Hinsicht gefordert.
Personalmarketing:
Um von Autisten
überhaupt beachtet zu werden, müs-
sen interessierte Firmen in einschlä-
gigen Netzwerken engagiert sein. Das
Personalmarketing muss hier massiv
informieren und vor allem glaubwür-
dig kommunizieren, am besten durch
authentische Berichte von Autisten aus
dem Arbeitsumfeld. Austauschbare
Phrasen über Corporate Social Respon-
sibility (CSR) oder Nachhaltigkeit sind
eher kontraproduktiv. Mitleid ist laut
Matthias Prössl, Vater eines 16-jährigen
Autisten, fehl am Platz: „Firmen sollten
um Autisten werben, weil sie an ihren
besonderen Talenten interessiert sind.“
Das besondere Potenzial
Praxis.
SAP und Vodafone öffnen ihre Tore für Autisten. Allerdings kann keine Rede
davon sein, dass die Personalarbeit gut auf die neue Zielgruppe vorbereitet ist.