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PERSONALquarterly 02 / 14
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_DIE WAHRHEIT HINTER DER SCHLAGZEILE
D
ie Augsburger Allgemeine fragt am 27. November
2013: „Machen Überstunden dumm?“ Fragezeichen
in der Überschrift – so lernt es der Journalist – locken
wenige Leser. Und so stellen die besser geschulten
Schreiber bei Zeit Online schon am Tag zuvor die leicht provo-
zierende Behauptung auf: „Zu viele Überstunden machen doof
und krank.“ Vermutlich haben die Autoren beider Medien das
gelesen, was die ganze Branche liest: meedia.de, denn dort
erscheint die Schlagzeile „Job-Studie: Überstunden machen
dumm“ bereits am 20. November, also eine Woche vorher.
Was im November durch so manche Medien geisterte, hat
einen wissenschaftlich stabilen Hintergrund. Allerdings einen
nicht mehr ganz taufrischen. Denn die zitierte Studie stammt
aus dem Jahr 2008 und wurde nicht erst, wie meedia.de im
Vorspann suggeriert, jüngst diskutiert, sondern bereits 2009
im American Journal of Epidemiology veröffentlicht.
Damals hatte eine Forschergruppe um Marianna Virtanen
im Centre of Expertise for Work Organizations, das zum Fin-
nish Institute of Occupational Health (FIOH) in Helsinki gehört,
untersucht, wie sich lange Arbeitszeiten auf die kognitiven
Fähigkeiten auswirken. Wer meedia.de über den Vorspann
hinaus liest und zu den Link-Klickern gehört, den erreicht
diese Information und damit die korrekte Einordnung schon
mit einer einzigen Weiterleitung. Der Aufsatz „Long Working
Hours and Cognitive Function“ handelt, wie der Titel schon
sagt, von ausgedehnten Arbeitszeiten. Verglichen wurde die
geistige Leistungsfähigkeit bei Menschen, die 40 Stunden pro
Woche arbeiten, mit der von Vielarbeitern, für die 55 Stunden
in der Woche und mehr Normalität sind.
Virtanen und Kollegen kamen in ihrer Studie, die über
mehrere Jahre die Ergebnisse der kognitiven Tests von über
2.000 britischen Angestellten sammelte und auswertete, zu
einem eindeutigen Zusammenhang: Die kognitive Leistungs-
fähigkeit nimmt bei zu vielen Arbeitsstunden ab.
Untersucht wurden Menschen im mittleren Alter, also die,
die gemeinhin zur Marathon-Hochform im Job auflaufen, weil
sie an ihrer Karriere basteln. Die Wissenschaftler haben neben
den Funktionstests weitere Faktoren herangezogen wie Famili-
enstand und Einkommen, Schlafstörungen und psychische wie
physische Erkrankungen.
Die Gleichung aus langen Arbeitszeiten und gutem Arbeitsergebnis geht nicht auf.
Denn die Leistungskraft sinkt bei zu lang andauernder kognitiver Beanspruchung.
Geistige Ressourcen im Job sichern
Einen Nebenaspekt fanden sie im Punkt Bildung heraus:
Besonders Leute mit höherer Bildung neigen dazu, sich stun-
denlang intensiv in ihren Job hineinzuknien. Der Produkti-
vität nutzt eine übertriebene Länge des Arbeitstags (oder so
manches Mal eher der Arbeitsnacht) nichts.
Der Letzte macht demnach zwar das Licht aus, er geht aber
nicht als Leuchte nach Hause. Und wer will schon weniger leis­
ten, weil er lange da ist. Es ist also wenig nützlich, die Kultur
überlanger Arbeitszeiten weiter zu favorisieren und mit besse-
ren Karriereaussichten zu belohnen. Anwesenheit als Maßstab
bringt der Firma nichts.
Keine Rolle spielt dagegen, ob das Mehr sich „Überstunde“
nennt. Denn der Ausgangspunkt der Studie ist die 40-Stunden-
Arbeitswoche. Teilzeit und Überstunden würden möglicher-
weise zu anderen Ergebnissen führen. Und Selbstständige
mit 60-Stunden-Wochen wurden in dieser Studie auch nicht
beachtet.
Da mag man spekulieren, aber für die Angestellten weiß man
es seit 2009: Die Gehirnwindungen spielen einfach nicht mit.
In dem Editorial „Saved by the bell: does working too much
increase the likelihood of depression?“ (in Expert-Reviews of
Neurotherapeutics 2012) belegen Marianna Virtanen und ihr
Kollege Mika Kivimäki es erneut: Lange Arbeitszeiten erhöhen
die Fehlerquote und das Unfallrisiko.
Selbstständiges Arbeiten schult die kognitiven Fähigkeiten
Leistungsfähigkeit ist ein Aspekt, der Unternehmen interessie-
ren muss, lang anhaltende Gesundheit ein anderer. Denn der
drohende demografische Wandel mag eine alte Leier sein, aber
ihre Töne werden von Jahr zu Jahr lauter.
In welchem Umfang Arbeitsbedingungen die Gesundheit
von Menschen beeinflussen, untersucht Francisca S. Then,
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialmedizin,
Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP) und am LIFE-For-
schungszentrum für Zivilisationserkrankungen der Universi-
tät Leipzig. In dem Artikel „Systematic review of the effect of
the psychosocial working environment on cognition and de-
mentia“ haben Francisca S. Then und Forscherkollegen aus
Dresden und Amsterdam gemeinsam internationale Studien
ausgewertet.
Ruth Lemmer
, Freie Wirtschaftsjournalistin, Düsseldorf