Seite 56 - PERSONALquarterly_2013_03

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_Die Wahrheit hinter der Schlagzeile
S
piegel online schreibt am 12.12.2012 die Überschrift
„Jeder dritte Chef lässt kranke Mitarbeiter schuften“,
garniert mit einer Leiste von Chefsprüchen zum an­
klicken „Husten können Sie auch hier“ oder „Wer es bis
zumArzt schafft, schafft es auch bis ins Büro“. sueddeutsche.de
titelt am 13.12.: „Jeder dritte Chef gönnt kranken Angestellten
keine Pause“, der österreichische karriere.blog.at formuliert
am 14.12.: „Wie krank man ist, entscheidet der Chef“. Und
auch bild.de lässt sich das Thema nicht entgehen und fragt
am 12.12. in der Unterzeile: „Was muss ich mir eigentlich vom
Vorgesetzten gefallen lassen?“
Minderheit dominiert die Schlagzeile
Die Basis, einmal mehr die ausbeuterische Gemeinheit von
Chefs anzuprangern, haben die Journalisten bei der Personal­
beratung LAB & Company gefunden, die mit der Hochschule
Coburg 381 Manager aus verschiedenen Hierarchieebenen
unter dem Titel „Gesunde Gewinne“ nach Aspekten des Prä­
sentismus befragte. Mehrfachnennungen waren möglich. Zum
einen ging es um die Reaktion auf Mitarbeiter, die mit fiebriger
Erkältung in einer Teambesprechung zu einem dringenden
Projekt auftauchen: Rund 68 % der Chefs würden den Mitar­
beiter zum Auskurieren nach Hause schicken, 63 % würden
dies außerdem tun, weil sie die Ansteckung weiterer Teammit­
glieder befürchten. Aber journalistisch ist eben das Drittel, das
die Mitarbeiter nicht sofort ins Bett schickt, viel spannender.
Nimmt man zum anderen Fragen hinzu, die Eberhard Nöfer,
Professor für Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule
Coburg, und sein studentisches Team in dem Fragebogen stell­
ten, verschwimmt die Schlagzeile vollends. Es geht darum, wie
Unternehmen bei Erkrankungen gegensteuern können. „Ent­
scheidend ist, dass Führungskräfte auf ihre eigene Gesundheit
achten.“ Diesen Schluss zieht Professor Nöfer: „Nur dann sind
die Chefs in der Lage, die Achtsamkeit für das Wohlbefinden
ihrer Mitarbeiter aufzubringen.“ Und er ist sicher: „Das ist die
Basis für den langfristigen Erfolg des Unternehmens.“
Die befragten Manager geben sich ausgesprochen einsichtig:
Rund 81 % sehen ein Gesundheitsmanagementsystem als Teil
der Problemlösung und 72 % meinen, ein besseres Betriebs­
klima wirke sich positiv auf die Gesundheit aus. Aber mit sol­
Präsentismus ist seit einigen Jahren ein schlagkräftiges Argument für den Einsatz eines
Gesundheitsmanagementsystems. Nicht immer sind die Details stichhaltig.
Chefs am Pranger
chen Aussagen würden die Journalisten nur ihre aufregenden
Schlagzeilen kaputt recherchieren.
Doch ganz gleich, ob reißerisch oder milde interpretiert: Die
Umfrage rekurriert – und etwas anderes behauptet sie auch
nicht – mit ihren wenigen Fragen auf einem Stimmungsbild
und nicht auf einer Datenerhebung dazu, wie Führungskräfte
mit Präsentismus umgehen, also der Anwesenheit durch kör­
perliche oder seelische Leiden geschwächte Mitarbeiter.
Nützlicher für Unternehmen sind ohnehin Analysen der ei­
genen Daten, kombiniert mit einer Befragung der Mitarbeiter,
die dann zur Mitarbeiterproduktivität ins Verhältnis gesetzt
werden – allerdings sind diese Ergebnisse eher für konkrete
Personalarbeit gedacht als für spektakuläre öffentliche Artikel.
Hoher Produktivitätsverlust durch Präsentismus
Der kanadische Präsentismusforscher Don Iverson, der in den
USA lehrte, bevor er an die University of Wollongong in Aus­
tralien ging, hat mit seinem Team die Grundlage für ein Instru­
mentarium zur Unternehmensanalyse geschaffen. Abgeleitet
aus einer Meta-Studie zur Präsentismusforschung schreibt
Professor Iverson, dass 10 bis 15 % der Gesamtproduktivität
durch gesundheitsbedingten Absentismus und Präsentismus
verloren gehen, wobei davon 65 % auf die Anwesenheit von
Mitarbeitern mit Belastungs- und Krankheitssymptomen fal­
len. Pro Jahr und Mitarbeiter macht das 27 Tage. Die größten
Produktivitätsräuber sind demnach Kopfschmerzen, Allergien
und Schlafprobleme.
In einem deutschen Konzern führte Don Iverson schließlich
mit seinem Team ein Programm durch, das einen Selbstein­
schätzungsfragebogen für Mitarbeiter enthält, der an den Be­
darf des Unternehmens angepasst wurde. Bei der Auswertung
wurden Verzerrungseffekte standardmäßig herausgerechnet.
Bezogen auf diese Einzelfallstudie kommen die Gesundheits­
wissenschaftler auf einen Produktivitätsverlust von rund 12 %,­
wobei die durch Präsentismus verursachten Verluste viermal
höher sind als die, die durch Absentismus verursacht werden.
Ein Detailergebnis besagt, dass die Kombination von Depres­
sion und Gesundheitsbeschwerden den Produktivitätsverlust
signifikant ansteigen lässt. Die Ergebnisse der Untersuchung
ermöglichen einen konkreten Blick auf das Phänomen Präsen­
Ruth Lemmer
, Freie Wirtschaftsjournalistin, Düsseldorf