Immobilienwirtschaft 10/2015 - page 36

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INVESTMENT & ENTWICKLUNG
I
KOLUMNE
Waren die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik geprägt von we-
nigen und zumeist in den politischen Parteien organisierten Inte-
ressengruppen, sind die Verhältnisse heute deutlich unübersicht-
licher. Die Linien verlaufen fließend. Tausende von Lobbyisten,
Vereinigungen und Bürgerinitiativen ringen um ihre Interessen
und versuchen auf allen politischen Ebenen Einfluss zu gewin-
nen. Höhere Ansprüche und deutlich divergierende Bedürfnisse
führen zu immer langwierigeren Entscheidungsprozessen.
Doch wie die Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Daron
Acemoğlu und James A. Robinson in ihrem Buch „Warum Na-
tionen scheitern“ an vielen Beispielen durch die Zivilisationsge-
schichte hinweg aufzeigen, ist gerade der Grad der Einbeziehung
unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in wirtschaftliche
und politische Entscheidungen der Innovationsmotor, der eine
Spirale zum Guten, Besseren und noch Besseren in Gang setzt.
Das sorgt dafür, dass Vorhandenes immer wieder in Frage ge-
stellt wird und Innovationen umgesetzt werden. Deshalb führt
der Wettbewerb unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen
zu genau der Dynamik, die nach immer wieder besseren und
ausgewogeneren Lösungen strebt.
Die Erhöhung der Lebensqualität in vielen Städten in den
letzten 25 Jahren ist genau darauf zurückzuführen, dass sich im-
mer mehr Personen in den Prozess der Stadtplanung einbrin-
gen. Seit Mitte der 90er Jahre hat sich beispielsweise die Zahl der
kommunalen Plebiszite verdreifacht. Bürgerbeteiligungen sind zu
einer kraftvollen Bewegung geworden, die kaum ein politischer
D
er Raum ist überfüllt, das Licht grell, die Luft stickig. Durch
den geöffneten Fensterspalt zieht eiskalte Winterluft herein.
Im Stadtplanungsausschuss des Bezirks Friedrichshain-
Kreuzberg drückt die Anspannung Beulen in die 70er-Jahre-De-
cke. Ein Projekt nach demanderenwird zur Vorstellung gebracht.
Und zur Wiedervorlage bestimmt. Die Wortführer der diversen
Fraktionen finden immer noch hämischere Empfehlungen für
die Vortragenden, die wie Bittsteller ihre zerrupften Projekte
wieder einpacken dürfen. Fachleute können sich mit Belegen
ihrer Kompetenz kaum Gehör verschaffen. Warum anstrengend
entscheiden, wenn man so schön polemisieren kann?
Wer hat es nicht schon erlebt, wenn der Wille zumVerstehen
abhandenkommt und Opportunismus das Maß für politisches
Handeln wird?! Divergierende Interessen prallen mit Wucht
aufeinander und müssen in langwierigen Verfahren immer und
immer wieder verhandelt werden.
Wie sich unsere Städte weiterentwickeln, welcher Wille sich
in baulicher Substanz manifestiert, geht viele an. Lange vorbei
sind die Zeiten, in denen Werner Grundstücksbesitzer und Rai-
ner Bürgermeister nahezu allein entscheiden konnten. Denn die
Stadt gehört auch Selim aus dem SO 36. Deshalb ist es für den
langfristigen Erfolg entscheidend, dass sich unterschiedliche
Gruppen engagieren und ausreichend Gelegenheit haben, sich
einzubringen. Darummuss Neues immer wieder neu verhandelt
werden. Offene, inklusive Gesellschaften gehen diesen Prozess
aktiv an.
Sprecht doch miteinander
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