Seite 54 - Immobilienwirtschaft_2013_05

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Ein flüchtiger Blick auf aktuelle städ-
tebauliche Großprojekte rings um den
Globus – auch auf Nominierungen zu
den Mipim Awards 2013 – genügt, um
festzustellen: Wasserflächen scheinen
die neuen urbanen Fixpunkte zu sein.
Künstlich angelegt, von Promenaden
umgürtet, schaffen sie Projektionsflä-
chen für die teuren Uferlagen – und sie
schaffen Distanz zum Gegenüber jenseits
des Wassers, bloß nicht zu nahe kommen
lassen! Älter und nicht zuletzt in den
Golfstaaten verbreitet ist das Postulat ei-
ner neuen urbanen Mitte als Shopping-
center. Seither häufen sich die „Neuen
Mitten“, gerne auch als austauschbare
Wohn- und Geschäftshäuser.
Sinnentleerte Chimären
Im Konzept der europäischen Stadt war
der Marktplatz die bürgerliche Mitte
zwischen Kirche und Rathaus, dem geist-
lichen und dem weltlichen Zentrum. Er
bezog seine Bedeutung im städtischen
Leben als öffentlicher, mulitfunktionaler
Raum gerade aus dieser Doppelbezie-
hung zu Kirche und Staat.
Sozialistische Stadtplanung setzte
an seine Stelle die Volkshäuser, in de-
nen Bürgerschaft und Obrigkeit, geistli-
che und geistige Orientierung vereinigt
werden sollten nach dem älteren Muster
des Festspielhauses in der Gartenstadt
Hellerau, dort Ausdruck eines soziokul-
turellen Reformgedankens. In jüngerer
Zeit griffen die Retortenstädte des ameri-
kanischen New Urbanism solche Anord-
nungen wieder auf, denn wer sich nach
außen abschottet, braucht den Fokus auf
eine Mitte – und sei es in Gestalt eines
Pseudo-Rathauses. Hier genügt der äu-
ßere Schein. Solche Mitten bleiben sinn-
entleerte Chimären, wenn die Eigentü-
mer-Obrigkeit der Communities ganz
woanders residiert. Letztes Glied in der
Degenerationskette ist das Quartiersbü-
ro in der Wohnsiedlung – oder eben die
Wasserfläche, eine Notlösung, wo andere
Inhalte fehlen.
Mitte ohne Mitte
In Hamburg kreierte jüngst die Internati-
onale Bauausstellung IBA Wilhelmsburg
am S-Bahnhof eine „Neue Mitte“ ohne
Mitte: Hybrid Homes, Smart Material
Homes, Smart Price Homes und Water
Houses bieten einen bunten Strauß expe-
rimenteller Architektur, eingebunden in
das künftig umweltfreundliche Netz der
neuen Energieversorgung Wilhelmsburg
Mitte – Ökologie als neue Sinnstiftung?
Die geistigen Mitten scheinen aus-
tauschbar, wenn nicht gar verzichtbar
geworden zu sein, so jedenfalls schon
1948 die Diagnose von Hans Sedlmayer
in seiner Schrift „Verlust der Mitte“. All
den neuen Mitten gemeinsam ist die Un-
verbindlichkeit. Was bleibt, sind Bilder
für Verkaufsprospekte. Das Leben wird
sich andere Bezugsgrößen suchen.
f
|
Verlust der Mitte.
Neue urbane Fixpunkte wie Shopping Center oder
künstlich angelegte Wasserflächen haben eins gemeinsam: Sie sind unverbindlich.
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Graffiti
05 | 2013
Foto: shutterstock.com
Dr. Gudrun Escher, Xanten
Mitte
Ohne Zentrum
keine Verlässlichkeit
Die geistigen Mitten scheinen
austauschbar, wenn nicht gar
verzichtbar geworden zu sein.
Was bleibt, sind Bilder für
Verkaufsprospekte.