Seite 11 - DIE_WOHNUNGSWIRTSCHAFT_2012_09

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Die Zahl der vergleichbaren Projekte ist über-
schaubar – was eigentlich erstaunlich ist, besaßen
doch nach Angaben des Statistischen Bundesamts
im Jahr 2009 immerhin 23% der Haushalte in
Deutschland kein Auto. Als autofreie Siedlung im
strengen Sinn gelten allerdings nur Wohnviertel,
in denen sich die Bewohner verpflichten, auf ein
eigenes Kraftfahrzeug zu verzichten. Quartiere,
die zwar vom Autoverkehr freigehalten sind, in
denen aber jeder Haushalt einen Stellplatz in der
Tiefgarage hat, zählen nicht dazu.
Zum Beispiel Münster
Seit über zehn Jahren gibt es die autofreie Garten-
siedlung Weißenburg in Münster. „Begonnen hat
ihre Geschichte 1996/97mit demeuropaweit vom
Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Münster
ausgeschriebenen Landeswettbewerb ,Wohnen
ohne eigenes Auto´“, berichtet Thomas Börtz von
der LEGWohnen NRW. Gebaut wurde die Siedlung
auf einem ehemaligen Kasernenareal im Geist-
viertel, wobei die damaligeWohnungsgesellschaft
Münsterland (WGM) als Investorin fungierte. Die
Gesellschaft, die inzwischen Teil der LEG Woh-
nen NRW ist, errichtete 120 Zwei- bis Fünfzim-
merwohnungen sowie 18 Mietreihenhäuser; alle
Einheiten wurden öffentlich gefördert.
Bis heute nicht realisiert ist hingegen ein wei-
terer Bauabschnitt mit Eigentumswohnungen.
Ohnehin habe die Stadt später als Folge eines
Wechsels an der Rathausspitze das Interesse am
Projekt verloren, kritisiert WolfgangWiemers, der
als langjähriger Umweltaktivist die Entwicklung
der Siedlung Weißenburg aus der Nähe verfolgt
hat. Hinzu kamen juristische Stolpersteine: Ein
Anwohner klagte gegen den Bebauungsplan, weil
er unzumutbaren Parksuchverkehr befürchtete
und das Modell des autofreien Wohnens für nicht
durchsetzbar hielt. Das Oberverwaltungsgericht
NRWbestätigte jedoch 2002, die Stadt Münster sei
berechtigt, „ihren planerischen Gestaltungsspiel-
raum für das Modellprojekt ,autofreies Wohnen´
zu nutzen“.
Mietvertrag schreibt Verzicht auf Auto vor
Geregelt ist die Autofreiheit in einem städtebau-
lichen Vertrag. Demnach wurde der Stellplatz-
schlüssel auf 0,25 Stellplätze pro Haushalt re-
duziert. Die wenigen so entstandenen Parkplätze
dienen laut Thomas Börtz als Besucherparkplätze
oder werden von einemCar-Sharing-Anbieter ge-
nutzt. Die Pflicht zur Autofreiheit der Mieter ist in
einem Anhang zumMietvertrag festgeschrieben.
Darauf, dass diese Pflicht tatsächlich eingehal-
tenwird, achtet ein Bewohnerverein der Siedlung.
„Die dort Engagiertenwollen, dass sich alle an die
Autofreiheit halten“, stellt Börtz fest. Der Bewoh-
nerverein darf auch neue Mieter vorschlagen und
hat zudemeine Schlichtungsstelle ins Leben geru-
fen, die darüber entscheidet, obMieter in Ausnah-
mefällen – z. B. bei vorübergehender körperlicher
Beeinträchtigung – doch ein Auto besitzen dürfen.
Ebenfalls eine „erhebliche Selbstregulierung in-
nerhalb der Gruppe“ beobachtet Claus-Dietrich
Scholze vom Wohnungsverein von 1902 bei der
Hamburger Siedlung Kornweg. Daran, dass die
Mieter tatsächlich kein Auto besitzen, hat die
Genossenschaft ein vitales Interesse: Andernfalls
müsste sie Scholze zufolge nämlich nachträglich
statt der 0,2 Stellplätze proWohnung, wie siemit
der Genehmigungsbehörde vereinbart wurden, die
normalerweise vorgeschriebenen 0,8 Stellplätze
schaffen.
Voraussetzungen für den Erfolg
Dass die Behörden mit einer Lockerung der Stell-
platzpflicht einverstanden sind, ist eine der Voraus-
setzungen für das Gelingen autofreier Siedlungen.
Ein zweiter Faktor: Erfolgreich sind solche Projek-
te dann, wenn die Initiative dazu von engagierten
Menschen und nicht allein von einer Institution
ausgeht. Zwingend erforderlich ist schließlich,
dass das ins Auge gefasste Grundstück gut an den
öffentlichen Verkehr angebunden ist.
„U- und S-Bahnhof sind nur wenige Gehminuten
entfernt, und in knapp einer halben Stunde ist man
mit dem Fahrrad in der Innenstadt“, fasst Rainer
Licht von der Wohnwarft eG die Standortqualitä-
ten der autofreien Siedlung in der Saarlandstra-
ße in Hamburg zusammen. Auch sie geht, ähnlich
wie das Projekt in Münster, auf einen politischen
Anstoß zurück. Als nach der Bürgerschaftswahl
1993 die SPD mit der Stattpartei kooperierte,
verpflichteten sich die Partner, ein Pilotprojekt
für autofreies Wohnen zu realisieren. Dabei gelang
es, eine Mischung unterschiedlicher Eigentums-
formen zu erreichen: An der Saarlandstraße gibt
es Eigentumswohnungen, genossenschaftli-
Die 2008 fertig gestellte Siedlung am Kornweg in Hamburg ist beliebt bei Familien, die ohne Auto auskommen
wollen.
Platz für Grünflächen statt für Autos: die Klimaschutzsiedlung Kornweg in Hamburg.
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