Wirtschaft und Weiterbildung 7-8/2022

personal- und organisationsentwicklung 34 wirtschaft + weiterbildung 07/08_2022 klärt die Übermacht von Formaten wie Seminaren, Trainings, Ausbildungs- und Führungskräfteprogrammen bis hin zum ausgesprochen schulisch geprägten MBA- und Fortbildungswahnsinn. Häufig zeichnen sich diese klassischen Lernformate durch starke Betonung von Klassenraumunterricht aus, teilweise ergänzt durch Testen, Benotung und Beurteilung. Ein Beispiel aus dem Schulwesen illustriert das Problem: Das schulische Konzept der Jahrgangslogik bedeutet, übertragen auf Organisationen, dass stets Menschen aus dem gleichen Bereich, mit dem gleichen Hintergrund oder aus der gleichen hierarchischen Ebene zum Lernen zusammenkommen sollen. Stärker gemischte, also diversere Lerngruppen zu bilden, wäre in dieser konventionellen Logik nicht ratsam. Die Konzepte der Reformpädagogik indes propagieren das Gegenteil: Dass nämlich die Unterschiedlichkeit zwischen den Lernenden im Prozess des Miteinanderfüreinander-Lernens von größtem Nutzen ist: Hier wird die Nutzbarmachung von Diversität zum elementaren Bestandteil der Didaktik. Die entsprechenden Prinzipien der Reformpädagogik haben bislang jedoch noch kaum Einzug ins „Corporate Learning“ gehalten, ebenso wenig wie in die Konzeption der meisten Ed-TechProdukte. Dabei sind teambasierte, funktions- und hierarchieübergreifende Lerninterventionen recht leicht realisierbar – wenn man es nur will. Ein selten gewürdigter Vorteil hierarchieübergreifender Lerngruppen: das Erleben des anderen (einschließlich Führungskräften) als „jemand Normales, der auch lernt“. Findet der Lernprozess gemeinsam statt, dann ist das Erleben der Einsichtsmomente der anderen möglich – das Miterleben jenes Moments, in dem es beim anderen Klick macht. In der Reformpädagogik gibt es nicht nur jahrgangsübergreifendes Lernen, sondern auch fächerübergreifendes Lernen und Lernen durch Lehren. Moderne Ansätze des Diskurslernens wie „Disqourse“ bedienen sich dieser didaktischen Konzepte. Mehr noch: Denkt man den Grundsatz des Miteinander-füreinander-Lernens konsequent zu Ende, so stößt man unweigerlich auf Lernformate, in denen das intensive, diskursbasierte „Peer Learning“ zwischen Kollegen und Kolleginnen die Belehrung durch Trainer und Trainerinnen sowie die Lernbegleitung durch Experten und Expertinnen vollständig verzichtbar macht. Will man soziales Lernen zwischen Peers etablieren, dann liegt die Kunst vor allem darin, sorgfältig vorbereitete Lernumgebungen zugänglich zu machen, die für Lernende einladend sind. Diese Lernumgebungen sollten nicht nur einen Resonanzraum zwischen Lernenden eröffnen (wie dies bei Open Space der Fall ist), sondern diese Räume mit dauerhafteren Methoden, Technologien und Inhalten verbinden, die das Lernen einerseits potenziell verstetigen und andererseits möglichst stark an Arbeitsrealität und -alltag der Lernenden annähern. Dabei gilt es in vielen Organisationen noch mancherlei praktische Hindernisse zu überwinden. Ein Beispiel: Der Zugang zu Lernangeboten wird vielerorts als ein integraler Bestandteil von Karrieremechaniken behandelt. Lernformate dienen also bei Weitem nicht nur dem Lernen selbst, sondern der Gestaltung von Karrierewegen. Das verringert didaktische Gestaltungsmöglichkeiten dramatisch. Einseitige Contentfokussierung ist ebenso ein Problem Der Schwerpunkt des Organisationslernens liegt heute in klassischen Konzepten von Aus- und Weiterbildung – und ist oft stark am Ideal der Wissensvermittlung orientiert. Die entsprechenden Formate nehmen viel Raum ein. Zusätzliche Inhalte bleiben weitgehend ausgeklammert, so zum Beispiel Themen, die sich auf die Entwicklung der Organisation und der Zusammenarbeit selbst beziehen. Generell jedoch mangelt es reinem Content im Kontext des Organisationslernens einerseits an Vernetzungswirkung und andererseits am Anwendungsbezug. Inhalten ohne didaktische Komponente fehlt jedoch die Dimension der praktischen oder zumindest gedanklichen Anwendung auf die eigene Realität. Der Brückenschlag zwischen Inhalten und deren Anwendung gelingt nur in seltenen Fällen. Von der Urform des reinen Lerncontents, dem Fachbuch, lässt sich sagen, dass es hohe inhaltliche Dichte mit hoher Spezialisierung vereinbaren kann. Immerhin lässt sich konstatieren: Auch nach hundert Fachbüchern stellt sich nicht unbedingt Ermüdung ein – zumindest bei leidenschaftlichen Lesern und Leserinnen. Die Wirksamkeit neuerer Präsentationsformate für Content dagegen nutzt sich schnell ab. Ein gutes Beispiel dafür sind Erklärvideos: Auch handwerklich hervorragend gemachte Erklärvideos verlieren nach einiger Zeit ihren Reiz. Jener Überraschungseffekt oder gar Zauber, den viele von uns im Jahr 2010 verspürten, als wir erstmals das RSA-Animationsvideo zum Buch „Drive“ von Dan Pink auf Youtube sahen, ist so nie mehr wiederholbar. Schon beim Betrachten des dritten, vierten oder fünften Videos ähnlicher Machart stellt sich Langeweile oder sogar Ablehnung ein. Erklärvideos sind eben reiner Schauinhalt. RSA-artige Animationen oder Visualisierungen sind noch lange keine Didaktik. Es fehlt bei präsentiertem, stark visualisiertem oder in Form von Audio oder Video aufbereiteten Content meist das Geheimnisvolle, das Element des Sichselbst-Erschließens durch Lernende, das für nachhaltiges Lernen hilfreich ist. Es wird Lernenden zu wenig Dechiffrierungsleistung zugemutet und stattdessen zu viel erklärt. Erst die Kombination von Content mit Didaktik ermöglicht Lernen ohne Erklärung. Die Erweiterung der Didaktik zur Diskursdidaktik ermöglicht, dass Inhalte kollegial im Gespräch erschlossen werden können. So können alle Lernenden zu Lehrenden werden. Werkzeuge im „Sweet Spot“ Das Alleinstellungsmerkmal von Werkzeugen im zentralen „Sweet Spot“ (siehe R „ Das Wirksamkeitsversprechen einer Lerntechnologie kann ohne stimmige Didaktik nicht eingelöst werden.“

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