Wirtschaft und Weiterbildung 7-8/2022

wirtschaft + weiterbildung 07/08_2022 15 an einen Führungsstil fest, der heute nicht mehr funktioniert, weil sie ihre Mitarbeiter viel zu sehr kontrollieren. Ich denke mir, oh mein Gott, was passiert da vor Ort in der täglichen Praxis? Oft kommt es zu großartigen Lernerfahrungen für alle Beteiligten. Normalerweise nehmen an den Topmanagementseminaren 21 Teilnehmende aus rund 16 Nationen teil. Das Seminar hat eine starke psychodynamisch-systemische Orientierung. Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel geben: Vor einigen Jahren hatte ich eine Teilnehmerin, die Vorstandsvorsitzende einer Aktiengesellschaft war. Nennen wir sie Anna. Wenn sie die Hand hob, dann wusste ich, dass sie eine sehr lange Rede halten würde, weil sie sich einfach gerne reden hörte. Das Seminar hat vier Module und es liegen zweieinhalb Monate zwischen dem ersten und zweiten Modul. Beim nächsten Modul war Anna sehr ruhig. Ich fragte sie nach dem Seminar, was los sei. Anna sagte, andere Seminarteilnehmende hätten ihr gesagt, dass sie zu viel rede und lieber zuhören solle. Zwischen den Modulen hat sie das gleich einmal ausprobiert und bei einem Meeting nur zugehört – und zu ihrer Überraschung viel gelernt. Also: Mit schwierigen Personen komme ich am besten zurecht, wenn diese Personen in einem Seminar von mehreren Teilnehmenden ein Feedback bekommen. Aus Feedback zu lernen, das ist in der Gruppe viel effektiver als im Einzelcoaching, weil im Einzelgespräch mehr abprallen kann. Aber wenn dir zehn Teilnehmende sagen, dass du ein Idiot bist – in einer etwas konstruktiveren Art – dann fängst du an, ernsthaft nachzudenken. Ist Gruppencoaching also effektiver als Einzelcoaching? Kets de Vries: Ich denke, es ist beides wichtig. Einzelcoaching ist aus meiner Sicht aber einfach sehr langsam. Ich möchte Erfolge sehen. Ich bin deshalb ein großer Verfechter des Teamcoachings und habe es am Insead in allen Programmen eingeführt. Ich sage immer, gebt mir ein neurotisches Managementteam und ich mache was draus. Ich bin darin recht gut, weil ich es viele Male praktiziert habe. Wie bringen Sie Manager und Managerinnen dazu, vor Kollegen über ihre psychischen Probleme zu sprechen? Kets de Vries: Als Eisbrecher lasse ich die Teilnehmenden zeichnen. Sie müssen ein Selbstporträt malen und das dann den anderen erklären. Das schafft bereits eine aufgeschlossene Atmosphäre. Dann gebe ich jedem die Ergebnisse seines (vorher erhobenen) 360-Grad-Feedbacks bekannt und frage jeden, wie er zu seinem Job gekommen ist. Das lockert die Gruppe auf. Ich beginne ein Programm und stelle nach einigen Wochen fest, dass eine ganz andere Atmosphäre herrscht. Und wenn das Programm zu Ende ist, treffen die Teilnehmenden sich oft ihr Leben lang immer wieder und sie sprechen dann nicht übers Wetter, sondern über richtig substantielle Dinge. Das meiste passiert übrigens außerhalb des Seminars. Ich bin nur der Facilitator. Buchtipp. Kets de Vries aktuellstes Buch trägt den Titel „Leading wisely“ (zur Zeit nur auf Englisch erhältlich). R

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