training und coaching 42 wirtschaft + weiterbildung 01_2022 Erst im zweiten Jahr wählen die Studierenden ihre Fachrichtungen. Die folgenden Semester verbringen sie in Seoul, Hyderabad (Indien), Berlin, Buenos Aires, London und Taipeh, leben dort auch weiterhin zusammen – Campusstrukturen gibt es nicht. „Die internationale Erfahrung hilft ihnen zu verstehen, wo kulturelle Konzepte für die Problemlösung entscheidend sind“, so Nelson. Prägend ist außerdem der didaktische Ansatz „Fully Active Learning“: In den Kursen auf einer Online-Live-Videoplattform wird die Aktivität der maximal 20 Studierenden getrackt – mithilfe eines Ampelsystems auf Basis der Rededauer. Auch den Lehrkräften wird angezeigt, wie lange sie schon sprechen – länger als ein paar Minuten am Stück ist nicht erwünscht. Darüber hinaus arbeiten die Professorinnen und Professoren viel mit Fragen, die zum Beispiel ein Student beantwortet und dessen Ausführungen der nächste weiter ausführt oder denen er widersprechen soll. Für alle Seiten ist das Studium damit extrem fordernd und setzt ein hohes Maß an Engagement in Diskussionen und Gruppenarbeiten voraus. Ein Vorbild, auch für Fernhochschulen und Unternehmen in Deutschland? Ein echter Fernstudienboom Hierzulande haben Fernstudiengänge derzeit Hochkonjunktur. Das belegt der „Branchenmonitor Digitale Bildung in Deutschland“ (siehe Seite 44). Auch das Zentrum für Fernstudien im Hochschulverbund (ZFH), in dem 21 staatliche Hochschulen mit Fernlernangebot kooperieren, verzeichnete im Wintersemester 2020/21 einen Immatrikulationsrekord. Im Sommersemester 2021 lagen die Immatrikulationszahlen in den weiterbildenden Studiengängen 18 Prozent über dem Vorjahr. ZumWintersemester 2021/22 hat sich zwar der Andrang beruhigt, allerdings auf hohem Niveau. „Fernstudiengänge hatten es leichter als andere, sich auf die pandemische Lage einzustellen, da sie schon lange weitgehend digitalisiert sind“, erklärt Margot Klinkner, stellvertretende Geschäftsführerin beim ZFH. Die Lehre erfolgt im Fernstudium vorwiegend asynchron, um zeitliche Flexibilität zu ermöglichen. Per Definition spricht man von einem Fernstudium, wenn das Angebot mehr als 50 Prozent Selbststudium und E-Learning umfasst. Die Fernhochschulen haben in der Coronazeit ihr Angebot technisch und methodisch ausgebaut. Die Vor-Ort-Lehre, die einen geringeren Anteil am Studium umfasste, wanderte ins Digitale. Die Fernhochschulen konzipierten neue digitale Lehr-Lern-Formate, verlagerten Klausuren ins Netz und erprobten neue Kollaborationstools. „Schnelle Rückfragen, Erklärungen und nonverbale Kommunikation, die im Seminar ganz selbstverständlich und mühelos stattfinden, werden ohne persönlichen Kontakt erschwert“, weiß Klinkner. Lehrende bekämen dadurch weniger von ihren Studierenden mit, vor allem wenn diese nicht selbst aktiv werden. Das ZFH konzipiert deshalb aktuell in dem von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre geförderten Verbundprojekt „H3“ (Hy Flex, High Tech & High Touch) einen digitalen Lernassistenten, der die Studierenden beim Selbststudium unterstützt – vom Zeitmanagement über die Visualisierung des Lernfortschritts bis hin zu interaktiven Wissenstests. Förderung digitaler Kompetenzen im Onboarding Die Studierenden starten nicht immer mit gleich guten digitalen Kompetenzen. „Je Kein Campus, keine Vorlesungen, alles online: Was für viele Hochschulen in der Pandemie eine Notlösung ist, stellt für die Minerva University in San Francisco die Quintessenz des künftigen Lernens dar. Ben Nelson gründete 2012 das „Minerva Project“ – mit dem Ziel, die Hochschulbildung zu revolutionieren. Gemeinsam mit dem Keck Graduate Institute baute er ein Hochschulprogramm auf, das neue Maßstäbe setzen soll. Konzept aus den USA: „Fully Active Learning“ Das Studium, das die volle Akkreditierung der Senior College and University Commission WASC trägt und nur etwa zwei Prozent der Bewerbungen zulassen kann, gilt als Karrieresprungbrett. 2019 machten die ersten 103 Studierenden ihren Abschluss. 94 Prozent hatten nach einem halben Jahr eine Vollzeitstelle oder ein Graduiertenprogramm ergattert, häufig in Technologiefirmen wie Google, Twitter oder Uber. Dennoch beträgt die Studiengebühr mit rund 37.900 Dollar nur etwa ein Drittel dessen, was andere Topuniversitäten aufrufen. „Man lernt Dinge, von einem Kontext auf einen anderen zu übertragen“, erklärt Nelson in einem Podcast. Dies gelinge durch eine praxisnahe Ausbildung, die Studierende auf mehrere Kontinente schickt. Im ersten Jahr leben sie gemeinsam in San Francisco. In den Einstiegskursen geht es um vier Lernaspekte: 1. Formelles Lernen mit Statistik und KI. 2. Empirisches Lernen, um zu verstehen, was die Daten tun 3. Komplexitätslernen, das sich um die Zusammenhänge in der Welt dreht 4. Rhetorisches Lernen, um all das zu erklären und mit anderen Menschen interagieren zu können Die Stunde des Fernstudiums VORBILDER. In Pandemiezeiten erlebt das Fernstudium als „First Mover“ der Onlinelehre einen regelrechten Boom. Doch auch Fernhochschulen sind im Wandel – organisatorisch, technologisch und didaktisch. Von dieser Veränderungsagenda können auch Unternehmen einiges lernen.
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