Wirtschaft und Weiterbildung 5/2022

wirtschaft + weiterbildung 05_2022 27 in die Wüste getrieben. So befreiten sich die Menschen von Schuld. Eine angstfreie Experimentierkultur etablieren Jedes Unternehmen kann, soll und muss eine Aus-Fehlern-lernen-Kultur etablieren. Um diesen Prozess in die richtige Richtung zu lenken, beginnt ihr im ersten Schritt so: • Verlange als Führungskraft von deinen Mitarbeitenden, über schlechte Nachrichten umfassend, ehrlich und sofort informiert zu werden. • Verpflichte deine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dazu, dir, wenn nötig, zu widersprechen und lobe sie dafür vor aller Augen. • Bedanke dich als Führungskraft ausdrücklich bei denen, die ihre Fehler zügig offenlegen oder schlechte Botschaften überbringen. • Sanktioniere, wenn Gravierendes gezielt verheimlicht wird, wenn grobe Fehler vertuscht wurden oder wenn offensichtlich gelogen wird. • Bitte deine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, dich auf deine Fehler hinzuweisen sowie unpopuläre Themen und „heilige Kühe“ anzusprechen. • Sprich selbst über Fehlversuche, die dir unterlaufen sind. Sei dabei offen und ehrlich. Eine Showeinlage wird schnell enttarnt und zerstört Vertrauen. In einem Klima ohne eine solche Kultur nehmen Katastrophen mit millionenschweren Schäden schnell ihren Lauf: Jeder weiß, dass der Chef oder die Chefin auf dem Holzweg ist, aber keiner hat die Traute, ihm das zu sagen. In Krankenhäusern sterben Menschen, weil niemand sich dem behandelnden Arzt oder der Ärztin widersetzt. Flugzeuge sind abgestürzt, weil der Co-Pilot oder die Co-Pilotin keinen Widerspruch wagte. Unternehmen gehen Bankrott, weil niemand bei Missständen Alarm schlägt. Ja, falsch verstandene Loyalität hat oft die übelsten Folgen. Nur wer den Oberen, wenn nötig, auch mal die Meinung geigt, tut ihnen gut. Insofern ist es die Pflicht eines Unternehmens, diejenigen, die unverblümt ihre Meinung sagen, zu schützen. Nur so kommt ihr an die Ursachen tiefsitzender Probleme heran. Zudem muss es immer auch darum gehen, welche internen Strukturen und Prozesse individuelles Versagen erst möglich gemacht haben, statt nur oberflächlich an Symptomen herumzudoktern. Fehler werden nämlich gerne personalisiert. Sind aber „der Huber“ oder „die Müller“ schuld, kann die Organisation selbst nichts lernen. Wo etwa das Zugeben von Verfehlungen zu unangenehmen Gesprächen, zu Gesichtsverlust oder sogar zu Sanktionen führt, da werden Fehler ja wohl besser kaschiert. Wer persönliche Risiken eingeht, indem er auf einen Fehler aufmerksam macht, wird sich trotz aller Ermunterungen nicht outen. Das Resultat: Die gleichen Fehler passieren wieder und wieder. Und mutige Innovationen können erst gar nicht entstehen. Ergo: Schon allein aus Gründen des Selbstschutzes ist das Fehlerverschweigen für Mitarbeitende oft die bessere Wahl. Für ein Unternehmen hingegen wäre es das Beste, alle Mitarbeitenden würden ihre Fehler – und dabei besonders die gravierenden – schnellstmöglich offenlegen. So müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um ein Vertuschen oder Verschleppen von Fehlern abzustellen. Schadensbegrenzung durch Früherkennung ist besser. Über Fehler offen zu sprechen kann neue Fehler verhindern. Schnell aus Fehlern zu lernen, steigert nicht nur das Können, es bewahrt die Beschäftigten auch vor wiederholten Scheitererfahrungen. Diese führen nämlich dazu, dass die Menschen den Glauben an ihre eigene Wirksamkeit verlieren. „Wir wollen Fehler schneller als alle anderen machen“, sagt Daniel Ek, der Gründer von Spotify. Dort gibt es sogenannte Fail Walls, auf denen für alle sichtbar die letzten Fehler und die Lernergebnisse daraus beschrieben werden. Das könnt ihr auch. Macht eure Lernfortschritte transparent. Erstellt dazu eine Übersicht, zum Beispiel an einer Wand im Mitarbeiterbereich. Gebt ihr einen flotten Namen, etwa „Unser Lern-Logbuch“. Schreibt darauf die Patzer, die passiert sind und welche Lösungen ihr gefunden und umgesetzt habt. Für den Fall, dass Fragen zum Vorgehen kommen, wird ein Ansprechpartner notiert. Im weiteren Verlauf kann daraus ein onlinebasiertes Patzer-A bis Z oder ein Lern-Wiki entstehen, das bereichsübergreifend zugänglich ist, damit Verbesserungen nicht immer wieder neu entwickelt werden müssen. Erfolgreiche Unternehmen erkennt man auch daran, was nach dem Scheitern passiert. Geht ihr lieber zurück auf altbekanntes Terrain? Oder exploriert ihr weiter im Neuland? Wer wie beim Tennis zwei Aufschläge hat, kann beim ersten mutiger sein und versuchen, das Spiel sofort für sich zu entscheiden. Vor allem Übermorgengestalter, Pioniere und Zukunftsmacher brauchen eine Schutzzone für ihre innovativen Gedanken, Enklaven für den gefahrlosen Meinungsaustausch und Versuchslabore für neuartiges Tun. Nur dann kann sich ihre Kreativität voll entfalten. Andererseits müssen sie hie und da eingebremst und wieder eingefangen werden, da sie sich in ihrem Übereifer auch schnell mal vergaloppieren. So gibt es bei dem Textilhersteller Gore ein Prinzip namens Waterline. Es besagt: Man bohrt keine Löcher unterhalb der Wasserlinie in ein Boot, in dem alle sitzen. Wie man dem vorbeugt? Alle Mitarbeitenden haben die Pflicht, sich Rat bei erfahrenen Kollegen und Kolleginnen zu suchen, bevor sie etwas unternehmen was „unter die Wasserlinie“ geraten könnte. So entsteht im gesamten Unternehmen ein Erfahrungsnetzwerk, in dem man sich vertrauensvoll austauschen kann. Dies hilft ungemein, nicht nur die Professionalität eines Einzelnen zu steigern, sondern auch die Professionalität des Unternehmens auf immer neue Level zu heben. Anne M. Schüller Anne M. Schüller i s t Business - coach und hat berei t s einige Bestsellerbücher verfasst. Als Keynote Speakerin wird die Diplom-Betriebswirtin zu den Themen „Touchpoint Management“ und „kundenfokussierte Unternehmensführung“ gerne gebucht. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk in die „Hall of Fame“ der German Speakers Association aufgenommen. www.anneschueller.de AUTORIN

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