Wirtschaft und Weiterbildung 5/2022

personal- und organisationsentwicklung 26 wirtschaft + weiterbildung 05_2022 Null-Fehler-Toleranz. Und natürlich will jeder Kunde eine fehlerfreie Leistung. Hingegen ist Fehlerakzeptanz in der vorgelagerten Entwicklungs- und anschließenden Optimierungsphase elementar. Dafür gibt es zum Beispiel das Testlabor und den Flugsimulator. Digitale Produkte kommen als Betaversion auf den Markt und werden mithilfe der User ständig verbessert und weiterentwickelt. Zudem kann man Fehler auch differenzierter betrachten: als Lapsus, Panne, Schnitzer, Anlaufschwierigkeit, Ersterfahrung, Rückschlag, Schwachstelle, Sackgasse, Trugschluss, Übersehen, Irrtum. Solche Formulierungen schützen vor dem Gefühl des Versagens und machen Missgriffe verzeihlich. Wem etwas schiefgeht, der braucht keinen Anpfiff, sondern Trost und Ermunterung. Meist ist man ja erst auf dem Weg zur Könnerschaft. Verschiedenes muss ausprobiert werden, da sind Irren und Wirren zwangsläufig. Man korrigiert seine anfängliche Meinung, probiert immer weiter, entdeckt neu. So wird das Straucheln zu einem Überarbeiten von Möglichkeiten. Dem verdanke ich übrigens mein Lieblingsdessert, wenn ich in Frankreich bin. Und das kam so: Eines Tages bemerkte eine der Schwestern Tatin, die in der Nähe von Orléans ein gutgehendes Restaurant betrieben, dass sie vergessen hatte, den Mürbeteig für den Apfelkuchen in die Backform zu geben. Die Äpfel schmorten ohne ihn im Ofen, und die Gäste warteten schon. Plötzlich kam ihr die zündende Idee: Sie gab den Teig über das karamellisierte Apfel-Butter-ZuckerGemisch und ließ ihn garen. Die Gäste fanden den Nachtisch köstlich. So wurde aus einem kleinen Malheur die legendäre „Tarte Tatin“, eines von vielen „Kindern des Scheiterns“ (nachzulesen im „Genussmagazin“ von Hagen Grote). Einem Anfänger dürfen natürlich mehr Fehler passieren als einem Profi. Niemand ist gleich vom Start weg perfekt. Stolpern gehört zum Laufenlernen dazu. Schließlich stellt sich die Frage: Ist das dem Fehler zugrundeliegende Problem kompliziert oder komplex? Bei komplizierten Problemen lassen sich Prozesse über feste Routinen in Richtung Fehlerlosigkeit bringen. Bei komplexen Problemen ist genau das nicht möglich. Sie verlangen zwar Rahmenbedingungen, aber auch Spielraum und freie Bahn. Wie wäre es mit folgendem Punkt auf der Meeting Agenda: „Welche Erfahrungen ich gemacht habe, die sich alle sparen können.“ Jeder Mitarbeitende weiß damit sogleich: Das wird uns hier nie wieder passieren. So kann jede erzählte Geschichte dabei helfen, genau die Fehler zu vermeiden, die andere schon hinter sich haben. Wenn man Fehler hingegen vertuscht, dann machen andere möglicherweise bald den gleichen Fehler – und das Ganze wiederholt sich unzählige Male. Und wenn man Fehler verschleppt, macht man aus einem Mini- ein Maxiproblem. So entstehen am Ende Großbaustellen. Es gibt drei Fehlertypen Auf dem Weg zu einer fehlertoleranten Lernkultur gilt es zunächst, die Fehlerkategorien einmal grundsätzlich zu analysieren. Davon gibt es drei: Fehlertyp 1: Das sind Fehler, die zu einer Katastrophe führen können. Weil es zum Beispiel um die Sicherheit von Menschen, um Finanzzahlen, Juristisches, die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften oder das perfekte Funktionieren eines Produkts geht. Solche Fehler gehören zum Beispiel zur Normwelt von Industrieunternehmen mit großen Stückzahlen, Massenproduktion und Gleichförmigkeit. Bei diesem Fehlertyp sind feste Prozesse, vordefinierte Abläufe und penible Kontrollmechanismen unverzichtbar. Fehlertyp 2: Das sind Fehler, die beim Erschaffen von Neuem entstehen, etwa Produkte, Services und Lösungen rund um Kundenbedürfnisse und die moderne Arbeitswelt. Hier gilt es, Fehlentwicklungen früh zu identifizieren, viel zu testen und anhaltend zu experimentieren in dem Wissen: Innovationen sind ergebnisoffen, sie beinhalten das Scheitern, erfordern kleine erste Schritte, verlangen Mut, Frustrationstoleranz, Anpassungsvermögen und psychologische Sicherheit. Nicht die Fehler im Entstehungsprozess sind hier die größte Gefahr. Die größte Gefahr ist die, dass ein Anbieter irrelevant wird, weil die Mitarbeitenden sich nichts trauen. Fehlertyp 3: Das sind Fehler, die nicht toleriert werden können, wie Absicht, Nachlässigkeit und Schlamperei. Sie erfordern angemessene Konsequenzen – auch als Botschaft an alle, die dabei zuschauen, wie man mit dieser Art Fehler umgeht. Nicht Unterlassungen, sondern Versuch und Irrtum bringen einen weiter. Folgendes kann also in euren Leitlinien des Miteinanderarbeitens stehen: „Bei uns darf jeder Fehler machen, nur nicht den, ihn zum Schaden des Unternehmens zu vertuschen.“ Denn der falsche Umgang mit Fehlern verursacht fünffache Kosten: • Aufwendungen für die fehlerhafte Leistungserstellung. • Aufwendungen für die notwendige Mängelbeseitigung. • Umsatzverluste durch die Abwanderung enttäuschter Kunden. • Umsatzverluste, die aus negativer Mundpropaganda entstehen. • Vertrauensverluste aufgrund einer schlechten Reputation. Wo keine Fehler zugelassen werden, geht viel Zeit dafür drauf, sich abzusichern. Dort stehen überall Besen herum, um Schlamassel unter den Teppich zu kehren. Oder man redet sich Fehltritte schön. Statt Lösungen zu finden, werden „Sündenböcke“ gejagt. Dieser Ausdruck geht übrigens auf das Alte Testament zurück. Bei den Feierlichkeiten zum Versöhnungsfest wurde ein Ziegenbock symbolisch mit allen Sünden des Volkes beladen und R Buchtipp. In „Bahn frei für Übermorgengestalter“ gibt Anne M. Schüller Denkanstöße, um die Zukunft der Unternehmen in ungewissen Zeiten mitzugestalten. Die Fehlerkultur ist eine von 25 Initiativen, die sie darin beschreibt. (Gabal Verlag 2022, 216 S., 24,90 Euro)

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