Wirtschaft und Weiterbildung 5/2022

titelthema 18 wirtschaft + weiterbildung 05_2022 Marketingleiter Peter Power bekam von seiner Umgebung immer öfter gespiegelt, dass etwas mit ihm nicht mehr in Ordnung sei. Seine Kollegen sagten zu ihm, dass er ihnen immer gehetzt, gereizt und unter Druck erscheine. Seine Frau beobachtete, dass er viel mehr und häufiger Süßigkeiten aß und statt nur am Wochenende auch unter der Woche regelmäßig Alkohol trank, wobei es häufig nicht bei einem Glas blieb. Seiner Chefin fiel auf, dass die Qualität seiner Arbeit schleichend zurückging und er generell unkonzentrierter wirkte. Sie war es dann auch, die ihm ein Gespräch mit der Personalabteilung empfahl. Die HR-Business-Partnerin vermutete, dass Peter Power nicht mehr nur an normalem Stress litt, sondern in eine Art „Dauerstress“ abgerutscht war. Als Führungskraft im mittleren Management übertrug er außerdem seinen Stress auf sein ganzes Team, welches schlechter zusammenarbeitete, mehr Konflikte und Reibereien hatte und dadurch Abgabetermine verpasste. Geschichten wie diese häufen sich aktuell in Deutschlands Unternehmen. Es geht um Menschen, deren Leistungsfähigkeit durch Dauerstress massiv heruntergesetzt ist. Zuerst war es die Coronakrise, die Stress verbreitete. Die bewährte Trennung von Beruf („Arbeit bleibt im Büro“) und Privatleben („Familienmensch ist man zu Hause“) wurde durch das Homeoffice abrupt aufgelöst. Das elementare Bedürfnis nach Nähe wurde nur mühsam mit sozialen Medien befriedigt, die ihrerseits ihre Nutzer gehörig stressen. Außerdem führte Corona zu einer Spaltung der Gesellschaft („Wie steht mein Gegenüber zum Thema Impfen?“). Zuletzt erschütterte der Ukraine-Konflikt die Menschen („Krieg in Europa ist wieder Realität“), da schwer zu ertragende TV-Bilder den Zuschauern ihre Ohnmacht vor Augen führen. Die ununterbrochene Anspannung führt zu ganz neuen Belastungen in Form von körperlichem und seelischem Dauerstress bei vielen Menschen. Neben dem individuellen Leiden entsteht auch für die Unternehmen ein Schaden: Diese Menschen sind unkonzentriert, machen mehr Fehler, deren Beseitigung andere Menschen belastet, die dann wieder an Stress leiden – ein Teufelskreis. Interne und externe Geschäftsbeziehungen werden langfristig belastet. Die Kreativität und Innovationskraft der Betroffenen sinkt, sodass die Konkurrenzfähigkeit zurückgeht und die gerade in solchen Zeiten wichtige Ideenfindung für neue Ansätze (zum Beispiel bei der Neugestaltung von Lieferketten) doch sehr leidet. Was es bedeutet, wenn die Mitarbeitenden mehr Fehler machen, Konflikte austragen und weniger kreativ sind, kann sich jeder selbst ausrechnen. Die Konflikte werden weiter zunehmen, da im Businessbereich jahrelang Bewährtes wie Just-in-time-Lieferketten oder globaler Einkauf von Halbprodukten infrage gestellt wird. Entsprechend nimmt der Druck auf die Mitarbeitenden und damit der Schaden für die Unternehmen weiter zu. Diesem Schaden dauerhaft abzuhelfen, gehört daher ab sofort zu den neuen Aufgaben der Unternehmensführung und des Personalwesens. Viele Personalverantwortliche wissen (noch) nicht, dass bei Dauerstress andere körperliche Prozesse als beim punktuellen Stress ablaufen. Sie sind wesentlich schädlicher. Selbst wenn Dauerstress als eigenes Phänomen erkannt werden sollte, so wird doch häufig versucht werden, diesen besonderen Stress mit den Mitteln des normalen Stressmanagements zu behandeln, was aufgrund physischer und psychischer Faktoren nicht funktionieren kann. Es gilt, ein ganz neues Bewusstsein für Dauerstress zu entwickeln. Der Fokus muss auf der Ermittlung der Ursachen des Dauerstresses liegen. Sowohl zur Diagnose als auch für Lösungen braucht man die neuesten Erkenntnisse aus der Psychologie und den Neurowissenschaften. Dazu gehören die folgenden drei zentralen Erkenntnisse: 1. Dauerstress bringt die Betroffenen in einen schädlichen Notbetrieb Stress ist eigentlich etwas Sinnvolles. Er entsteht, wenn das Unterbewusstsein ein Ereignis als bedrohlich einstuft und den Körper auf eine Flucht- oder Kampfreaktion vorbereitet. Wenn wir hören, dass sich uns ein bremsendes Auto nähert, bereitet sich unser Körper darauf vor, wegzuspringen, da er weiß, dass Autos stärker als der menschliche Körper im direkten Aufeinandertreffen sind und daher ein großer, wenn nicht sogar lebensbedrohender Schaden entstehen kann. Entsprechend ist Stress ein Teil des Repertoires, das die Natur entwickelt hat, um ihr übergelagertes Prinzip des Überlebens der Spezies sicherzustellen. Über die Jahrtausende hat sich gezeigt, dass Kämpfen oder Fliehen die beiden Strategien sind, die das Überleben am besten sichern. Weiter hat die Natur gelernt, dass man sich auf Kampf und Flucht vorbereiten sollte, indem man die Muskeln – wie beim Sport – aufwärmt (man schwitzt), mehr Leistung zur Verfügung hat (die Glukoseproduktion steigt), mehr Sauerstoff in den Muskeln ist (zum SchaR 04. Kognitionen reflektieren – unangemessene Gedanken automatisch ablegen 05. Umstrukturierung – Entwicklung angemessener kognitiver Alternativen 06. Training – funktionale Kognitionen im Alltag einüben und Erfolge kontrollieren.

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