Wirtschaft und Weiterbildung 3/2022

d“ Das Magazin für Führung, Personalentwicklung und E-Learning www.wuw-magazin.de wirtschaft weiterbildung Mentale Modelle_Darum klappt „Think outside the box“ selten S. 14 Branchentalk E-Learning_Fokus liegt auf Professionalisierung S. 32 US-Marktforscher_„Digital Coaching Provider“ als heißer Trend S. 36 Erfolg beginnt mit Neugier Eine schlechte Angewohnheit wird zur Tugend S. 18 03_22 Mat.-Nr. 00107-5195

editorial wirtschaft + weiterbildung 03_2022 3 als ich mich vor einigen Jahren – eher Jahrzehnten – als freie Mitarbeiterin bei einer Tageszeitung beworben habe, gaben mir erfahrene Kommilitonen Tipps für das Vorstellungsgespräch: Auf die Frage, warum ich gerne bei der Zeitung arbeiten möchte, solle ich bloß nicht sagen, dass ich gerne schreibe. Das sei Grundbedingung. Für die redaktionelle Arbeit seien andere Voraussetzungen wichtig. An erster Stelle: Das Interesse an anderen Menschen – vom Kleintierzüchter respektive Kleintierzüchterin bis zum Stadtratsmitglied. Das Interesse an ihren Geschichten, ihren Plänen und ihrem Engagement. Sprich: Für den Journalismus braucht es vor allem Neugierde. Neugierde gilt bei Kindern als Zeichen für Offenheit und Intelligenz. Sie haben einen natürlichen Drang, zu fragen und Zusammenhänge zu verstehen. Wie oft ich die Frage „Warum regnet es?“ beantwortet habe, bis mein Sohn eine zufriedenstellende Antwort hatte, kann ich Ihnen gar nicht sagen. Gleichzeitig wäre die Antwort „Das ist halt so.“ eine der elterlich-pädagogischen Todsünden, die in Elternblogs angeprangert werden. Man soll schließlich die natürliche Neugierde der Kinder fördern. Sobald man das Kindesalter verlassen hat, gilt Neugierde aber als schlechte Angewohnheit, die man der Nachbarschaft gerne unterstellt oder den allzu kommunikativen Kollegen und Kolleginnnen. Wie aber sieht es aus, wenn ein Kollege oder eine Kollegin im Meeting Fakten hinterfragt? Wenn Mitarbeitende in andere Abteilungen „reinschnuppern“ und bei Tätigkeiten begleiten – einfach aus Interesse? Wäre das nicht eine förderungswürdige Neugierde, weil die Mitarbeitenden danach Zusammenhänge besser einordnen können, eine andere Perspektive entwickeln und vielleicht sogar innovative Ideen einbringen können? Man möchte mit „ja“ antworten. Gleichzeitig ist klar, dass nicht jede Unternehmenskultur solch eine Offenheit unterstützt. Unsere aktuelle Titelgeschichte können Sie darum als Appell verstehen, die Neugierde von ihrem schlechten Image zu befreien. Unternehmen wie Merck und Novartis haben Neugierde bereits als Voraussetzung für Erfolg erkannt. Doch lesen Sie selbst, was Neugierde alles bewirken kann. Liebe Leserinnen und Leser, Ich wünsche Ihnen spannende Erkenntnisse! Kristina Enderle da Silva, Chefredakteurin

inhalt 03_2022 4 wirtschaft + weiterbildung 03_2022 06 blickfang aktuell 08 Nachrichten Neues aus der Weiterbildungsbranche: aktuelle Studien, Umfragen und Tipps menschen 14 „ Der Mensch schlägt künstliche Intelligenz“ Der Mensch besitzt die einzigartige Fähigkeit, Gedankenmodelle zu erstellen. Mithilfe dieses „Framings“ kann er nicht nur Vorhersagen über die Zukunft treffen, sondern auch auf ganz neue Lösungswege stoßen, zeigt Professor Francis de Véricourt. titelthema 18 Erfolg beginnt mit Neugier Ganze 72 Prozent der Führungskräfte weltweit sehen Neugier als eine sehr wertvolle Eigenschaft ihrer Mitarbeitenden. Neugier gilt geradezu als ein „echter Geschäftstreiber“, fand der „Curiosity@ Work Report“ heraus. Er gibt auch Anregungen, wie man das Neugierigsein trainieren kann, ohne dass man für andere zur Nervensäge wird. Neugierde. Der amerikanische Softwarekonzern SAS hat untersucht, inwiefern „Neugierde“ weltweit als eine Schlüsselkompetenz für unternehmerischen Erfolg angesehen wird. In Deutschland könnte die Einstellung der Führungskräfte zur Neugier ihrer Mitarbeitenden noch etwas positiver sein, lautet das Studienergebnis. Interview. Professor Francis de Véricourt zeigt, warum Menschen dank „Framing“ der KI überlegen sind und bleiben. 14 personal- und organisationsentwicklung 24 In einen zukunftsfähigen Kosmos führen Die Ausbildungsinstitute von Vivantes und Charité haben sich zum Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe (BBG) zusammengeschlossen. Um die Neuausrichtung der Pflegeausbildung und das Zusammenwachsen der Unternehmenskulturen zu bewältigen, holten sie sich Facilitatorinnen an Bord. 28 Quo vadis, betriebliche Weiterbildung? Die betriebliche Weiterbildung im Wandel der Zeit: Während einige Veränderungen in den vergangenen Jahren kaum wahrnehmbar waren, hat die Coronapandemie für einen deutlichen Umschwung gesorgt. Die Krise verhalf einigen neuen Lerndesigns zum Durchbruch in der Praxis. 32 Digitales Lernen professionalisiert sich Beim Branchentalk tauschten sich zwei Personalentwicklerinnen mit zwei Anbietern aus dem E-Learning-Markt aus. Es zeigte sich: Nachdem E-Learning im Lockdown oft aus der Not geboren wurde, hat es nun Fuß gefasst in den Unternehmen und wird in ein bedarfsgerechtes Umfeld eingebettet. 18

wirtschaft + weiterbildung 03_2022 5 Branchentalk. Die Zukunft des digitalen Lernens aus Sicht von Anbietern und Personalentwicklern. training und coaching 36 „Digital Coaching Provider“ erobern die Unternehmen Tech-Analyst Josh Bersin hält sie für eine bahnbrechende Innovation, die den Markt der Führungskräfteentwicklung umkrempeln werden: „Digital Coaching Provider“ vermitteln über ihre Plattformen auf Basis eines Rahmenvertrags und per automatisiertem Matching Coachs an Unternehmen. 40 Neue, berufsbegleitende Masterstudiengänge Um das lebenslange Lernen zu stärken, sollten Unternehmen und ihre Mitarbeitenden alle Wege der Weiterbildung nutzen. Ein berufsbegleitender Masterstudiengang ist ein hochwertiges Lernangebot, das allerdings an deutschen Hochschulen noch selten ist. Doch es gibt einige neue Angebote, die sich lohnen können. 43 Master zum Thema „berufliche Bildung“ An der Technischen Universität München startet in diesem Jahr erstmals ein internationaler berufsbegleitender Master in beruflicher Bildung – gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Der Studiengangsleiter, Professor Daniel Pittich, erklärt das weltweit einzigartige Angebot. 46 Gehirngerecht lehren und lernen Emotionen sind der Herzschrittmacher fürs Lernen. Was bedeutet das für Lehre und Weiterbildung? Der Überblick zeigt, was Lehrende über die Funktionsweise unseres Gehirns wissen sollten und wie sie Lernwirksamkeit in Seminaren und Trainings nachhaltig steigern können. Tipps. Welche neurowissenschaftlichen Erkenntnisse Trainer und Trainerinnen beherzigen sollten, um die Lernwirksamkeit zu steigern. 32 46 52 fachliteratur 56 kolumne 58 zitate Rubriken 03 editorial 51 vorschau 51 impressum

blickfang 6 wirtschaft + weiterbildung 03_2022 WER Das Foto zeigt eine unbekannte Angestellte, die auf einem fahrbaren Bürostuhl sitzend von einem Kollegen einen Korridor entlang geschoben wird und die Aktion offenbar als großen Spaß erlebt. WAS Die Kiste mit persönlichen Habseligkeiten, die die Frau bei sich hat, deutet darauf hin, dass es sich um ihren letzten Arbeitstag in dem betreffenden Unternehmen handelt. UND SONST Das Foto wird von der Fotoagentur Getty Images vertrieben. Es dient zur Zeit als stimmungsvolle Bebilderung von Texten über die amerikanische Antiwork-Bewegung. Die Kunst des Hinschmeißens. In den USA haben zwischen Juli und November 2021 rund 21,3 Millionen Menschen freiwillig ihre Stelle gekündigt. Diese Bewegung trägt den Titel „Great Resignation“ oder „Big Quit“. Das klingt nach frustrierter Selbstaufgabe in der Pandemie. Beobachtet werden aber auch Opportunisten, die den guten US-Arbeitsmarkt nutzen, um ihr Gehalt zu maximieren. Prinz Harry, Enkel der britischen Königin, der beim amerikanischen Coaching-Provider „Betterup“ als „Chief Impact Officer“ mitarbeitet, erklärte in einem Interviewmit der Zeitschrift „Fast Company“ euphorisch, dass Eigenkündigungen grundsätzlich gut seien: „Viele Menschen stecken in Jobs fest, die ihnen keine Freude bereiten, und jetzt stellen sie ihre psychische Gesundheit und ihr Glück an die erste Stelle. Das ist doch etwas, was gefeiert werden sollte.“ Auf Twitter wurde diese Äußerung nicht nur begrüßt, sondern zum Teil auch als „realitätsfern“ gebrandmarkt. Foto: Fuse / gettyimages.de

8 wirtschaft + weiterbildung 03_2022 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG „Beruf & Karriere“ eingestellt Die frühere Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) wird Nachfolgerin von Detlef Scheele, der nur noch bis Ende Juli Vorsitzender der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg sein wird. Dem neuen Vorstand der Bundesagentur werden außerdem noch Katrin Krömer, aktuell Leiterin Personal- und Führungskräfteentwicklung bei der Deutschen Bahn AG, und Vanessa Ahuja, derzeit Abteilungsleiterin im Bundesarbeitsministerium, angehören. Teil des BA-Vorstands, der aus vier aktuell POLITIK Neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit Ampelkoalition abzeichnete. Nach dem Koalitionsvertrag der Ampelkoalition soll der Bundesagentur (BA) künftig eine stärkere Rolle bei der Weiterbildung von Berufstätigen zukommen. Das ist allerdings ein Ansatz, der bei den Arbeitgebern auf heftige Kritik stößt. Außerdem könnte die BA mit einem ans Kurzarbeitergeld angelehnten Qualifizierungsgeld Unternehmen im Strukturwandel ermöglichen, ihre Beschäftigten durch Qualifizierung im Betrieb zu halten. Nach einem Jobverlust verschlechtert sich die materielle und soziale Teilhabe der Betroffenen bereits innerhalb des ersten Jahres deutlich. Das zeigt eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). „Menschen mit geringen Qualifikationen sind stärker von den negativen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit betroffen als höher Qualifizierte“, so die IAB-Forscherin Laura Pohlan. Laut der Studie verringert sich bei Arbeitslosen das durchschnittliche monatliche Haushaltsäquivalenzeinkommen um rund 151 Euro. Das entspricht einem Rückgang um zwölf Prozent. Im Vergleich zu durchgehend Beschäftigten, deren Einkommen leicht steigt, ergibt sich bei den Joblosen letztlich ein Monatsverlust von 190 Euro. Befragte, die arbeitslos geworden sind, berichten zunehmend von seelischen Problemen wie Angst, Niedergeschlagenheit oder Reizbarkeit. IAB-STUDIE Deutliche finanzielle Einbußen nach Jobverlust Personen besteht, ist außerdem noch als einziger Mann Daniel Terzenbach. Er ist bei der BA operativ für 156 regionale Arbeitsagenturen verantwortlich und gilt als Experte für Kurzarbeitergeld. Medienberichten zufolge hat Nahles die Unterstützung von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil. Über die Ernennung von Nahles zur neuen BA-Chefin war bereits Ende 2021 spekuliert worden, nachdem sich kein Regierungsposten für Nahles in der neuen Die „Süddeutsche Zeitung“ (verkaufte Auflage: 314.200) hat ihre Samstagsbeilage „Beruf & Karriere“ eingestellt. Berühmt wurde die Beilage vor rund 30 Jahren durch ihre Seminarreportagen. Im Jahr 1996 entwickelte das Beilagenteam zusammen mit dem damals sehr bekannten Didaktiker Heinz Mandl vom Institut für Pädagogische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München ein wissenschaftliches „Bewertungsverfahren für offene Seminare“. Wichtigste Forderung: Die Journalisten und Journalistinnen sollten darauf achten, ob die realen Probleme der Teilnehmenden von den Trainern und Trainerinnen auch wirklich genug bearbeitet werden. Problemorientierung galt als „das“ Er folgskriterium für ein Seminar. Die Wünsche der Anwesenden sollten eben nicht nur den Ablauf von firmeninternen Seminaren bestimmen.

wirtschaft + weiterbildung 03_2022 9 Kurz und Knapp Nutzen. Eine berufliche Weiterbildung lohnt sich, ergab eine Umfrage unter 1.200 Schweizern. Egal, ob Wochenendseminar oder ein mehrteiliger Lehrgang: 25 Prozent sagten, sie seien wegen ihrer letzten Weiterbildung befördert worden und 38 Prozent betonten, sie hätten zumindest ihr Einkommen steigern können. Messe. Die Hannover Messe wird verschoben und soll jetzt vom 30. Mai bis zum 2. Juni 2022 ausgerichtet werden. Damit reagiert die Deutsche Messe AG auf das aktuelle Pandemiegeschehen. „Wir schaffen so Planungssicherheit für Aussteller und Besucher“, sagt Jochen Köckler, Vorsitzender des Vorstands der Deutschen Messe. Homeoffice. 61 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die schon einmal im Homeoffice arbeiten durften, berichten von überwiegend positiven Erfahrungen. Nur etwa 25 Prozent sprechen von negativen Erfahrungen. Das ergab eine Umfrage der KKH Krankenkasse, die Forsa im Februar 2022 veröffentlicht hat. Der meistgenannte Pluspunkt fürs Homeoffice war die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch das noch. Der gerade erwähnten KKH/Forsa-Umfrage verdanken wir auch die Erkenntnis, dass das Homeoffice eine Schattenseite hat. Am allerschlimmsten ist, dass bei einem Drittel der Homeoffice-Arbeitenden sich Rückenprobleme gezeigt haben. „Ein möglicher Grund dafür sind die Arbeitsbedingungen im Homeoffice“, sagt KKH-Psychologin Antje Judick. Häufig fehlten dort ein geeigneter Schreibtisch und Bürostuhl. Das lange Sitzen führe zu mehr Nacken-, Schulter- und Rückenbeschwerden. „Staat soll sich aus Weiterbildung raushalten“ ARBEITGEBER/NORDMETALL Der Verband der Metall- und Elektroindustrie „Nordmetall“ fordert die Bundesregierung auf, angesichts des Strukturwandels in der Branche nicht in die Fort- und Weiterbildung einzugreifen. „Was wir gar nicht brauchen, ist eine staatlich gelenkte Weiterbildung oder eine stärker mitbestimmte Transformation“, betonte Nico Fickinger, Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände Nordmetall und AGV Nord. Er fürchtet, dass angesichts des hohen Bedarfs an Weiterbildungen der Staat mehr Aufgaben an sich zieht und vermutet auch, dass die Bundesagentur für Arbeit zu einer „allumfassenden Weiterbildungsbehörde“ umgebaut werden soll. Dies behindere betriebliche Initiativen zum Strukturwandel. „Es geht nicht mehr darum, bloß die Bedienung neuer Maschinen zu erlernen oder neue Softwareversionen anzuwenden, sondern um ganz andere und neue Qualifikationen“, so der Arbeitgebervertreter. Diese HerausfordeWas Führungskräfte jetzt beachten sollten AUFHEBUNG DER HOMEOFFICE-PFLICHT Ab dem 20. März entfällt die Homeoffice-Pflicht. Viele Mitarbeitende freuen sich aufs Büro, andere bevorzugen weiter das Homeoffice. Das birgt Konfliktpotenzial, das Führungskräfte mit dem richtigen Verhalten auflösen können. Joachim Pawlik, CEO von Pawlik Consultants, gibt dafür Tipps. 1. „Safety first“: Hygienekonzepte sollten weiterhin konsequent eingehalten werden. Die Führungskraft ist hier Vorbild. 2. Psychologische Sicherheit geben: Nicht jeder hat den rungen würden die Betriebe selbst bewältigen, wenn man sie lasse. Die Rolle der Arbeitsagentur sehen die Arbeitgeber als begleitend. Die Vorstellung man könne die Transformation in den Betrieben „vom grünen Tisch aus lenken oder durch eine Ausweitung der Mitbestimmung wirksamer steuern, ist ein Irrglaube“, so Fickinger. Foto: TOBIAS SCHWARZ / Kontributor / gettyimages.de Mut, sich mit seinen Sorgen zu outen. Führungskräfte müssen den sehr unterschiedlichen Ansichten Aufmerksamkeit schenken und ihnen gerecht werden. 3. Neue Lösungen testen: Führungskräfte sollten neue hybride Modelle ausprobieren und gemeinsam reflektieren, bevor sie Regeln festzurren. 4. Das Büro neu denken: Wer Menschen aus dem Homeoffice locken will, bietet ihnen Gemeinschaft – mit Zoom-freien Tagen, neuer Bürogestaltung oder gemeinsamem Essen. 5. Vertrauen statt Pflicht: Es gilt, gemeinsam zu diskutieren und zu beschließen, dass „es gut wäre, wenn alle am Mittwoch da wären“ statt Mitarbeitende Top-down zu verpflichten.

aktuell 10 wirtschaft + weiterbildung 03_2022 Immer wieder versuchen umstrittene Kommunikationstrainer deutschen Polizeipräsidien Seminare zu verkaufen, wie man als Polizist totsicher Lügner erkennen und mit welchen Vernehmungstaktiken man Geständnisse herbeizwingen kann. Nun haben renommierte Psychologen und Psychologinnen sowie hochrangige Vertreter und Vertreterinnen der Polizei ein Positionspapier PSYCHOLOGIE Polizeiexperten gegen selbsternannte Profiler HARVARD-STUDIE Einführung einer Viertagewoche kein Problem? ryn vom Bundeskriminalamt. Zu den Unterzeichnern gehören weitere 13 Professoren und Professorinnen sowie Mitarbeitende von Polizei-Hochschulen. Besonders abzulehnen seien Angebote, bei denen eine gewisse Wissenschaftlichkeit dadurch vorgetäuscht werde, dass die Seminaranbietende sich Profiler/Profilerin oder Geheimdienstanalyst/ Geheimdienstanalystin nennen. Stark kritisiert wird von den Kriminalwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen der „Emotionsansatz“, der davon ausgeht, dass täuschende Personen bei absichtlichen Falschaussagen Angst haben, enttarnt zu werden und dies anhand nonverbaler Indikatoren (Blickabwendung, Arm-/Bein-/ Fußbewegungen), paraverbaler Indikatoren (wie Stimmhöhe, Antwortlatenz) und verbaler Indikatoren (wie Detailarmut, veröffentlicht, in dem sie vor unseriösen Methoden der Lügenerkennung und unerlaubten Tricks bei Vernehmungen warnen. Autoren und Autorinnen des Papiers, das auf springer. com verfügbar ist, sind Professor Lennard May von der Medical School Berlin, Teresa Schneider vom Institut für Kriminalwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg und Malgorzata Okulicz-KozaDie Einführung einer Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich führt bei Wissensarbeitern nicht zu Einbußen ihrer monatlichen Leistung, so eine aktuelle Studie der Harvard Business School. Die Bedingung ist allerdings, dass die Viertagewoche als Pilotprojekt eingeführt und dazu genutzt wird, dass die betroffenen Mitarbeiter und Teams ihre zukünftigen Arbeitsbedingungen untereinander aushandeln. Erst dieser experimenthafte Einstieg in die Viertagewoche schaffe die Grundlagen dafür, dass eine dauerhaft lohnende Umorganisation der entsprechenden Abteilungen stattfinde. Über die Studie berichtet der „Harvard Business Manager“ in seinem Februarheft ausführlich und betont wie wichtig Vertrauen in die Kollegen und Kolleginnen sowie in die Eigenverantwortung sind. Die Beschäftigten teilen sich ihre Arbeit selbst ein. Das Unternehmen kontrolliert nicht, es führt auch keine Anwesenheitslisten. Die individuellen Arbeitszeiten ändern sich selbstverständlich und ständig. Eine Viertagewoche mit 32 Arbeitsstunden bedeutet nicht generell, dass es einen freien Werktag pro Woche gibt. Es geht „nur“ um reduzierte Arbeitspensen und damit um mehr Flexibilität. Grundsätzlich gilt: Dank der Viertagewoche hat jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin in der Regel 48 freie Werktage pro Jahr. Und an den Wochenenden, die drei Tage dauern, kann man sich besser erholen als an den regulären zwei Tagen, von denen der Samstag meist für Großeinkäufe draufgeht. Plausibilität) sichtbar werde. Eine umfangreiche Metaanalyse habe den Emotionsansatz bereits eindeutig widerlegt. Entgegen weit verbreiteter Annahmen sei das Beobachten verbaler und nonverbaler Anzeichen ungeeignet, um Täuschungen und Lügen zu erkennen, so das Positionspapier. Außerdem werden Methoden wie „Mikroexpressionen“ (ein sehr kurzes Entgleisen der Gesichtsausdrücke) als „pseudowissenschaftlich“ abgelehnt. Problematisch sei auch, dass gelegentlich die Anwendung der „Reid-Technik“ empfohlen werde. Bei dieser US-Verhörmethode wird den Beschuldigten vorgelogen, dass man entscheidende Beweise gegen sie habe und gleichzeitig wird ihr Vergehen kleingeredet, um den Eindruck zu erwecken, dass sie bei einem Geständnis mit einer geringen Strafe davonkämen.

wirtschaft + weiterbildung 03_2022 11 Das diesjährige Weltwirtschaftsforum (WEF) findet als Live-Veranstaltung vom 22. bis 26. Mai in Davos statt. Davos im Kanton Graubünden ist die höchstgelegene Stadt Europas und berühmt für die Vielfalt des Sport-, Freizeit- und Kulturangebots. Das Weltwirtschaftsforum steht unter dem Motto „Working Together, Restoring Trust“. Es hätte bereits im Januar stattfinden sollen, wurde aber wegen der Pandemie verschoben. Das Treffen werde die erste globale ZUKUNFT PERSONAL SÜD Neustart nach zwei Jahren Pause Vom 5. bis zum 6. April 2022 soll die Messe „Zukunft Personal Süd“ nach zwei Jahren wieder live jeweils von 09.00 bis 18.00 Uhr als Präsenzveranstaltung stattfinden. Die Messehalle soll bereits gut mit Ausstellern gefüllt sein. Zu den Programm-Highlights teilte Heike Riebe, Programmdirektorin beim Messeveranstalter Spring, mit, dass Yasmin Weiss und Kati Wilhelm bereits als Keynote-Speakerinnen zugesagt haben. Weiss, BWL-Professorin, Start-Up Gründerin sowie mehrfache Aufsichts- und Beirätin, will in ihrer Keynote ihre Studie „Wie die jungen Raketen ticken“ vorstellen. Kati Wilhelm, erfolgreiche Biathletin, Expertin für Entscheidungsfindung, plant eine Keynote zum Thema „Entscheidungsfreude erlernen“. www.zukunft-personal.com. Weltwirtschaftsforum (WEF) DAVOS Veranstaltung seit Ausbruch der Pandemie sein, teilte das WEF mit. Nach virtuellen Treffen in den vergangenen zwei Jahren sollen Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft endlich wieder persönlich zusammenkommen, freut sich WEF-Gründer Klaus Schwab. Auf der Tagesordnung steht die Bewältigung des Klimawandels, die Beschleunigung des StakeholderKapitalismus und die Nutzung der Technologien der vierten industriellen Revolution. Foto: Bloomberg Creative Photos / gettyimages.de

aktuell 12 wirtschaft + weiterbildung 03_2022 Führungskräfte machen im Umgang mit kreativen Mitarbeitenden immer wieder folgende Fehler: Sie verteilen verbale Ohrfeigen. Sie würgen Ideen, die nicht in ihr (Denk-)Schema passen, vorschnell (und von oben herab) ab. „Da haben Sie sich ja was Schönes ausgedacht.“ Sie benutzen Totschlagargumente. Oft befassen sich Vorgesetzte nicht ernsthaft mit Ideen ihrer Mitarbeitenden, weil sie gerade andere Prioritäten haben. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit“ oder „Hierfür fehlt uns das Geld“. Und der Mitarbeiter denkt sich: Einmal und nie wieder. Sie sitzen Innovationen aus. „Spannend, lassen Sie mich darüber nachdenken.“ Das sagen Führungskräfte zuweilen, wenn Mitarbeitende ihnen neue Ideen unterbreiten. Doch dann verstreicht Zeit – viel Zeit. Und der Mitarbeiter hört nie wieder etwas von seiner Idee. Das „Aussitzen“ ist ein Hauptgrund, warum in vielen Unternehmen das Vorschlagswesen nicht funktioniert. Führungskräfte „stehlen“ außerdem gerne die besten Ideen. Der Vorgesetzte sagt: „Geben Sie mir das. Ich stelle das mal in der Abteilungsleiterrunde vor.“ Doch leider präsentieren sie im Kollegenkreis oder bei ihren Vorgesetzten die Idee nicht als Idee ihres Mitarbeiters, sondern als eigene. Sich beschweren? Das bringt nichts. Denn hierauf reagieren die „Ideendiebe“ meist wie folgt: „So neu war Ihre Idee nicht. Und wenn ich Ihr Grobkonzept nicht überarbeitet hätte, dann ...“. Sie machen den kreativen Mitarbeiter „platt“. Der Chef sagt: „Haben Sie nicht besseres zu tun als ...!“. Der Mitarbeiter zieht sich also in sein Schneckenhaus zurück und artikuliert nie wieder eine Idee. Wirklich innovative Unternehmen fordern von ihren Führungskräften, dass sie Ideen ihrer Mitarbeitenden aktiv fördern – und zwar durch einen Managementstil der „katalysatorische Führung“ genannt wird. Er zeichnet sich meiner Beobachtung nach durch folgende Merkmale aus: 1. Die Mitarbeitenden sind nicht von morgens bis abends ins operative Geschäft eingebunden. Sie erhalten (zeitliche) Freiräume, um neue Ideen zu entwickeln. Und dies wird nicht als Zeitverschwendung, sondern als integraler Bestandteil ihrer Arbeit gesehen. 2. Teams werden immer wieder neu und unterschiedlich zusammengesetzt, damit in ihnen keine kollektiven Denkroutinen entstehen, die den Blick für neue Lösungen verstellen. So soll das erhalten bleiben, was man den „Outsider Advantage“ nennt – also den Vorteil, als Außenstehender mit anderen Augen auf ein Problem zu schauen. 3. Außer der offiziellen Unternehmenskultur schätzen auch die Führungskräfte Kreativität als hohes Gut und verankern entsprechende Werte in ihren Teams – beispielsweise durch Maximen wie: „Glaube daran, dass Du die Welt verändern und verbessern kannst.“ 4. Geführt wird nach der Philosophie der offenen Tür. Kein Mitarbeiter soll davor Angst haben, zu seinem Vorgesetzten zu gehen und zu sagen: „Chef, ich habe eine Idee, wie ... Wann können wir darüber reden?“ Eine weitere Maxime lautet: Es gibt keine heiligen Kühe. Alles kann man irgendwie besser machen. 5. Auch das Scheitern wird belohnt. Sie haben richtig gelesen. Die Führungskräfte der innovativsten Unternehmen belohnen ihre Mitarbeitenden selbst dann, wenn deren Ideen nicht funktionieren – und sei es nur mit ausgesprochen viel verbaler Anerkennung. Denn sie wissen: Es müssen immer zuerst einmal viele Ideen geboren werden, um die eine zu finden, die Gold wert ist. Gastkommentar Bitte keine Kreativität abwürgen Dr. Jens-Uwe Meyer Dr. Jens-Uwe Meyer ist CEO der Innolytics AG, Leipzig. Sie entwickelt Software, die Unternehmen beim Ideen-, Innovations- und Wissensmanagement unterstützt. Meyer ist auch Buchautor und Vortragsredner – mehr unter https://jens-uwe-meyer.de. Es gibt keine heiligen Kühe. Alles kann man irgendwie besser machen. „ „

menschen 14 wirtschaft + weiterbildung 03_2022 INTERVIEW. Der Mensch besitzt die einzigartige Fähigkeit, Gedankenmodelle zu erstellen. So kann er nicht nur Vorhersagen über die Zukunft treffen, sondern auch auf ganz neue Lösungswege stoßen, erklärt Professor Francis de Véricourt. Damit bleibt er der künstlichen Intelligenz überlegen. Das sogenannte „Framing“ wird bislang vor allem dazu genutzt, um Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Menschen sollen zu etwas „gebracht“ werden. Framing hat offensichtlich auch etwas Manipulatives an sich. Ist es das, was Sie unter Framing verstehen? Prof. Dr. Francis de Véricourt: Nein. Framing wird in unterschiedlichen Settings genutzt. Was Sie beschreiben, ist die Art, wie man eine Situation darstellt, um andere zu einem bestimmten Verhalten zu bringen, also zum Beispiel, etwas zu kaufen oder mit dem Rauchen aufzuhören. Dabei nützt man oft einen typischen menschlichen Urteilsfehler. Wenn wir Entscheidungen treffen, tendieren wir dazu, stärker zu reagieren und mehr Risiken einzugehen, wenn wir Verluste befürchten. Wenn wir zum Beispiel einen Stift verkaufen sollen, verlangen wir einen höheren Preis dafür, als wir selbst dafür ausgeben würden. Dazu gibt es zahlreiche, vielfach wiederholte Experimente. In der Forschung geht es bei Framing meist um negative Aspekte, wie wir Entscheidungen treffen und wie wir die Menschen beeinflussen können. Das ist alles richtig. Aber wir sehen Framing positiv als eine einzigartige Fähigkeit des Menschen, abstrakte Repräsentationen der Welt und ihrer Funktionsweise zu erstellen. Und das ist ein sehr machtvolles Werkzeug. Framing steht für uns für eine bewusste Verwendung gedanklicher Modelle, um mehr und alternative Entscheidungsmöglichkeiten zu erkennen. „ Der Mensch schlägt künstliche Intelligenz“ Ist ein Frame dann möglicherweise so was wie eine „Sichtweise“? de Véricourt: Man kann sagen, es ist eine sehr artikulierte Sichtweise. Würden Sie die Modelle der heutigen Physik als eine Sichtweise bezeichnen? Sie bieten zwar eine bestimmte Sicht darauf, wie die Welt funktioniert, aber sie umfassen viel mehr. Eine bessere Analogie ist eine Karte. Wenn Sie mit dem Rad von A nach B wollen, brauchen Sie eine Karte, auf der die Strecke gut repräsentiert ist. Aber wenn Sie mit der U-Bahn fahren, nützt Ihnen diese Karte nur wenig. Da brauchen Sie ein anderes Modell der Strecke. Und umgekehrt sind Sie mit einer U-Bahn-Karte völlig verloren, wenn Sie mit dem Rad an Ihr Ziel kommen wollen. Je nachdem, was Sie erreichen wollen, brauchen Sie einen anderen Frame, also ein anderes mentales Modell. Das gilt zum Beispiel auch für politische Verhandlungen. Nehmen Sie den Brexit. Den kann man als Gewinner-VerliererModell sehen. Was immer der eine gewinnt, verliert der andere und umgekehrt. Eine andere Sichtweise ist es, den Kuchen zu vergrößern, was die EU auch versucht hat. Manches, was gut für mich ist, ist für dich unwichtig. Also kannst du mir das geben und umgekehrt. So bekommt jeder etwas dazu und gibt etwas ab und man ist raus aus dem Gewinner-Verlierer-Modell. Je nach Situation ist ein Frame besser als ein anderer. Nach dem mentalen Modell der Impfgegner ist es besser, nicht geimpft zu werden. Doch es gibt nun mal viele Hinweise und belegbare solide Daten, dass es nicht besser ist, wenn man Francis de Véricourt. Er ist Direktor des Center for Decisions, Models and Data (DMD-Center) an der Wirtschaftshochschule ESMT in Berlin. Er forscht am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und hat einen Master of Science in angewandter Mathematik und Informatik. Foto: ESMT Berlin

wirtschaft + weiterbildung 03_2022 15 nicht geimpft ist. Man kann schwer erkranken oder sogar sterben. Wenn also das Ziel ist, in einer Gesellschaft zu leben, in der Menschen gesund sind und die Wirtschaft funktioniert, dann erscheint das mentale Modell der Impfgegner nicht gut zu sein. Ein weiteres Problem ist die Inkonsistenz des Gedankenmodells. So schimpfen viele Impfgegner zwar auf die Pharmaindustrie, die die Impfstoffe herstellt und daran verdient. Viele sind aber nicht gegen Antibiotika und haben kein Problem damit, sie im Bedarfsfall zu nehmen – obwohl die auch von der Pharmaindustrie hergestellt werden und sie daran verdient. Da gibt es also Unstimmigkeiten in dem Denkmodell und das ist ein Anhaltspunkt dafür, ob ein Frame gut funktioniert oder nicht. Zum Frame der Impfgegner gehört auch die persönliche Freiheit, sich nicht impfen zu lassen … de Véricourt: Grundsätzlich ist es nicht schlecht, wenn man manchmal Zweifel daran hat, was Regierungen und Unternehmen tun. Aber es ist schlecht, wenn man diesen Frame auf die falsche Situation anwendet, wie gerade erwähnt. Und hier haben wir ein klares Misframing. Denn bei einer Pandemie geht es nicht nur um den Einzelnen, sondern auch die Gesellschaft und die Wirtschaft. Die Frage ist, wie kann ich einen Frame schaffen, an den Impfgegner glauben und ihre Entscheidung ändern können? Das ist sehr schwierig und ich habe auch keine Lösung. Aber vielleicht kann man von anderen Beispielen lernen. Eines ist die Erlaubnis der gleichgeschlechtlichen Ehe in den USA. Ihre Verfechter haben jahrelang vergeblich dafür gekämpft, weil sie die gleichen Rechte wie heterosexuelle Paare haben wollten. Das war ihr Frame: Sie wollten dasselbe Recht haben, ihren Partner zu heiraten. Dann haben sie begonnen, es anders zu betrachten: als Recht auf Liebe für ihren Partner oder Partnerin. Sie wollen ihren gleichgeschlechtlichen Partner oder ihre Partnerin heiraten, weil sie sich lieben. Das ist ein anderer Frame. Der überzeugte auch mehr die konservativen Vorstadtmütter und heute ist die gleichgeschlechtliche Ehe in vielen US-Staaten erlaubt. Oder nehmen Sie die MeTooBewegung. Davor waren Frauen, die über sexuelle Übergriffe klagten, meist allein und man gab ihnen oft sogar eine gewisse Mitschuld. Mit dem neuen Frame bekamen sie globale Unterstützung. MeToo kehrte das Stigma um: Frauen müssen sich nicht schämen und können Schande über die Männer bringen, die sie missbraucht haben. So entstand eine andere Sicht auf das Problem und es ergaben sich neue Handlungsoptionen. Also bestimmt letztlich der Frame, welche Entscheidungen wir treffen und wie wir handeln? de Véricourt: Genau. Ein gutes Beispiel ist der Ebola-Ausbruch 2014 in Afrika, der mit wenigen lokalen Fällen begann. Damals gab es zwei mit Pandemien sehr erfahrene Organisationen, die WHO und Ärzte ohne Grenzen, die damals vor Ort R Buchtipp. Kenneth Cukier, Viktor Mayer-Schönberger und Francis de Véricourt: Framers, erschienen im Redline Verlag, München 2021, 272 Seiten, 25,00 Euro

menschen 16 wirtschaft + weiterbildung 03_2022 waren. Beide hatten dieselben Daten, aber ein anderes Modell und kamen zu völlig anderen Schlussfolgerungen. Während die WHO einen lokal begrenzten Ausbruch sah und von drastischen Maßnahmen abriet, befürchtete Ärzte ohne Grenzen einen massiven Ausbruch und forderte sofortige und drastische Maßnahmen. Sie hatten letztlich recht. Das mentale Modell bestimmt also, welche Handlungen man unternimmt, um erfolgreich zu sein. Auch bei Corona konnte man das beobachten. In Asien, wo man bereits Erfahrung mit SARS hatte, hielt man das Virus für extrem gefährlich und ergriff sofort teils radikale Maßnahmen. In Europa wurde Corona anfangs dagegen als eine Art Grippe eingestuft. Auch hier führten unterschiedliche Frames zu unterschiedlichen Entscheidungen. Interessant war die Reaktion von Neuseeland. Dort hat man sich erst einmal an Großbritannien orientiert, wo man Corona leichtsinnigerweise als Grippe sah, die auch wieder verschwindet. Dann hat man nach Asien geschaut, deren Frame übernommen und sich für einen kompletten Lockdown entschieden. Je nachdem, welchen Frame man für ein Problem nützt, trifft man also völlig andere Entscheidungen. Dass man einen Frame völlig ändert, scheint aber eher die Ausnahme zu sein. Warum ist es so schwer, ihn aufzugeben? de Véricourt: Wenn Sie ein Werkzeug haben und wissen, wie Sie es optimal nutzen, ist es schwer, das wieder aufzugeben. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Brille, mit der sie gut sehen können. Dann gebe ich Ihnen eine andere Brille, mit der sie die Farben anders sehen oder die Dinge größer oder kleiner sind. Dann fühlen Sie sich unwohl. Wir gewöhnen uns an unsere Darstellungen und fühlen uns mit ihnen wohl. Je öfter ich einen Frame anwende und sehe, dass er funktioniert, desto schwieriger wird es, zu erkennen, dass er nicht mehr funktioniert und ihn aufzugeben oder zu verändern. Es gibt den bekannten Spruch, „Think outside the Box“. Sie behaupten, das sei Unsinn. Warum? de Véricourt: Dazu gibt es viel Forschung. Wenn man Menschen auffordert, außerhalb der Box zu denken und sich frei von Beschränkungen zu fühlen, werden sie weniger innovativ und treffen schlechtere Entscheidungen. Das klingt zunächst widersprüchlich. Die Menschen fühlen sich zwar befreit, aber ohne die Grenzen unserer Frames ist unsere Vorstellungskraft nur reine Fantasie, die keine wirksamen Optionen für das jeweilige Problem erkennen lässt. Es müsste daher besser heißen: Denke in der richtigen Box. Frames mögen nützlich sein, aber inzwischen glauben viele Menschen, dass künstliche Intelligenz (KI) besser darin ist, unsere Probleme objektiver und fehlerfreier zu lösen ... de Véricourt: Diesen Hype um die künstliche Intelligenz (KI) sollte man vorsichtig betrachten. Es stimmt, dass Maschinen immer mehr Dinge besser können als Menschen. Sie können bestimmte Hautkrebsarten besser erkennen als Ärzte, sie können den besten Schachspieler schlagen. Aber letztlich werden die Menschen weiter wichtig sein. Denn wir können etwas, was die Maschinen niemals können werden: eigene Gedankenmodelle erstellen, mit denen wir Informationen einordnen können, Vorhersagen über die Zukunft treffen und Entscheidungen treffen können. Maschinen können nur Vorhersagen treffen, die den Daten, mit denen wir sie trainieren, sehr ähnlich sind. Deshalb braucht man eine große Datenmenge, um eine Maschine richtig zu trainieren. Andernfalls müssen wir der Maschine sagen, wie sie die Welt sehen soll. Aber sie kann keine eigene Welt schaffen. Im Gegensatz dazu können Menschen Vorhersagen auf der Grundlage von sehr wenigen Daten machen, weil sie ein mentales Modell haben. Nehmen Sie die Mondlandung. Bevor Armstrong als erster Mensch seine ersten Schritte auf dem Mond gemacht hat, gab es keine Daten aus erster Hand dazu. Dennoch passierte nichts völlig Überraschendes, weil wir Modelle hatten, mit denen wir voraussehen konnten, was auf dem Mond passiert. Interview: Bärbel Schwertfeger R ESMT Berlin. Die staatlich anerkannte private wissenschaftliche Hochschule ist akkreditiert von AACSB, AMBA, EQUIS und FIBAA. „ Outside the Box zu denken und sich frei von Beschränkungen zu fühlen, führt zu schlechteren Alternativen.“

titelthema Foto: PeopleImages / gettyimages.de NEUGIER ... ... entsteht durch: 18 wirtschaft + weiterbildung 03_2022

SCHLÜSSELKOMPETENZ. Eine deutliche Mehrheit der Führungskräfte weltweit hält die Neugier für eine sehr wertvolle Tugend ihrer Mitarbeitenden, hat der „Curiosity@Work Report 2021“ herausgefunden. Neugier gilt als eine der wichtigsten Eigenschaften, wenn es darum geht, Mitarbeiterbindung und Zufriedenheit am Arbeitsplatz zu fördern und gleichzeitig Innovation sowie Produktivität voranzutreiben. Erfolg beginnt mit Neugier R 01. Wissenslücken: „Ich kann stundenlang über fehlende Informationen nachdenken.“ 02. Entdeckerfreude: „Es macht mir Spaß, in der Welt auf Unbekanntes zu stoßen.“ 03. Soziales Interesse: „Ich interessiere mich für Verhalten und Gespräche anderer.“ wirtschaft + weiterbildung 03_2022 19

titelthema 20 wirtschaft + weiterbildung 03_2022 Artur Fischer, der Dübel-Erfinder aus dem Schwarzwald, betrieb nach dem Zweiten Weltkrieg eine Werkstatt, in der elektrische Schalter hergestellt wurden. Als er seine im Juni 1948 geborene Tochter kurz nach der Geburt fotografieren lassen wollte, weigerte sich die Fotografin, in Fischers kleiner Mansardenwohnung mit ihrem Magnesiumblitzlichtbeutel und der dazugehörigen Zündschnur zu hantieren, da sie Angst hatte, das Holzdach in Brand zu stecken. Fischer war so frustriert, dass er alles daransetzte, sein Problem mit dem Foto vom Nachwuchs, das eigentlich das Problem sehr vieler damaliger Fotografen war, zu lösen. Er kombinierte Feinmechanik und Elektrotechnik und erfand eine kleine Blitzbirne, die mit dem Auslöser eines Fotoapparats gleichgeschaltet wurde. Sein „Synchronblitz“ war im Jahr 1950 eine Sensation auf der Messe Photokina und wurde im Folgenden vom Kamerahersteller Agfa vermarktet. Neugier gilt weltweit als „echter Geschäftstreiber“ Artur Fischer gilt neben Alva Edison weltweit als „das“ Beispiel dafür, dass problemlösungsorientierte Neugier die Grundlage für unternehmerischen Erfolg ist. Es ist nicht überraschend, dass die Neugier weltweit im Ansehen steigt: 72 Prozent der Führungskräfte, die rund um den Globus Verantwortung tragen, sagen, dass Neugier eine „sehr wertvolle“ Eigenschaft sei, die sie unbedingt von ihren Mitarbeitenden erwarteten. 59 Prozent bezeichnen Neugier sogar als einen „echten Geschäftstreiber“. Dies ist das Ergebnis des globalen „Curiosity@Work Report 2021“, der Ende 2021 von dem Softwarekonzern SAS, einem führenden Anbieter von Lösungen für Analytics und künstliche Intelligenz, veröffentlicht wurde. Dazu wurden rund 2.000 Führungskräfte in Deutschland, Brasilien, Indien, Singapur, UK und den USA befragt. „Unsere Untersuchung zeigt ganz klar: Neugier ist längst nicht mehr nur ein Nice to Have. Diese Eigenschaft ist inzwischen ein Muss in der Geschäftswelt, denn sie hilft Unternehmen, entscheidende Hürden zu nehmen und Innovation voranzutreiben“, erklärte Jay Upchurch, CIO von SAS, bei der Präsentation der Studie. Deutsche Führungskräfte sind etwas skeptisch Deutsche Manager und Managerinnen beurteilen das Potenzial von Neugier im internationalen Vergleich zurückhaltender: Lediglich 59 Prozent (statt international 72 Prozent) der Befragten gaben an, dass Neugier eine „sehr wertvolle“ Eigenschaft ihrer Mitarbeitenden sei. Und längst sind nicht alle Deutschen überzeugt, dass Mitarbeitende, die über mehr Neugier verfügen als andere, tendenziell auch wirklich leistungsfähiger seien. Fast die Hälfte (47 Prozent) der deutschen Führungskräfte ist sogar der Meinung, ihr Arbeitgeber tue zu viel, um die Neugier am Arbeitsplatz zu fördern. In Deutschland fallen weniger Führungskräfte in die Kategorie „sehr neugierig“ (25 Prozent gegenüber 38 Prozent weltweit). Dabei wäre eine hohe Neugier am Arbeitsplatz gerade für Führungskräfte von Vorteil, da sie Neugier bei ihren direkten Mitarbeitenden stärker fördern. Die Studie zeigt auch, dass die Neugier bei Top-Managern und -Managerinnen mehr geschätzt wird als im mittleren Management. „Neugier ist eine sehr wertvolle Eigenschaft“, sagen die Vorstände (50 Prozent), die Direktoren und Abteilungsleitungen (40 Prozent) und die Führungskräfte der mittleren Ebene (39 Prozent). Auf die Frage, in welchen Abteilungen es für Mitarbeitende besonders wertvoll ist, neugierig zu sein, antworten die deutschen Führungskräfte: • IT-Abteilung (61 Prozent) • Forschung und Entwicklung (40 Prozent) • Marketing (40 Prozent) Natürlich kennen die Führungskräfte in Deutschland durchaus (in einem gewissen Umfang) die Vorteile der Neugierde. Sie sorgt für … • kreativeres Denken und kreativere Lösungen (53 Prozent), • höhere Effizienz und Produktivität (53 Prozent), • größeres Engagement der Mitarbeitenden und höhere Arbeitszufriedenheit (51 Prozent), • stärkere Zusammenarbeit und Teamwork (50 Prozent) und • mehr Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in Zeiten der Unsicherheit (50 Prozent). Alle wollen mehr lösungsorientiertes Denken Viele Führungskräfte in Deutschland glauben, dass es besonders wertvoll ist, wenn Mitarbeitende bei der Erledigung bestimmter Aufgaben am Arbeitsplatz neugierig sind (wenn auch weniger stark als ihre Kollegen weltweit): • Neue Lösungen zu finden (50 Prozent in Deutschland, 62 Prozent weltweit) • Bewältigung komplexer Probleme (42 Prozent versus 55 Prozent weltweit) R 04. Gefahrenabwehr: „Ich erkunde meine Welt, weil ich nicht überrascht werden will.“ 05. Abenteuerlust: „Risiken einzugehen, Neues auszuprobieren erzeugt bei mir Lebensfreude.“ 06. Digitalisierung: „Ich finde es aufregend, komplexe Daten zu analysieren.“

wirtschaft + weiterbildung 03_2022 21 • Analyse von Daten (43 Prozent gegenüber 52 Prozent weltweit) Viele Unternehmen weltweit und auch in Deutschland haben Neugier formell in ihre Personalentwicklung integriert. Neugier spielt demnach eine Rolle bei der Ausbildung im Unternehmen (73 Prozent), bei Entscheidungen über Beförderungen (68 Prozent), bei der Leistungsbeurteilung von Mitarbeitenden (66 Prozent). Außerdem spielt Neugier auch als Einstellungskriterium (58 Prozent) eine gewisse Rolle. Wenn sich deutsche Personalabteilungen entschließen, die Neugier ihrer Mitarbeitenden zu fördern, dann ... • spielt die persönliche Neugier bei der Leistungsbeurteilung der Mitarbeitenden eine Rolle (84 Prozent), • ist Neugier ein Thema im Coaching oder bei der Teamentwicklung (82 Prozent), • wird bei Einstellungsentscheidungen auf Neugier geachtet (79 Prozent) und • entscheidet der Grad der Neugier einer Person bei Beförderungen mit (76 Prozent). Überfordert die Neugier die Mitarbeitenden? Die Einstellungen der Führungskräfte zur Neugier sind nicht eindeutig. Es gibt Führungskräfte, die noch zögern, diese Eigenschaft auch tatsächlich zu fördern. Ein Drittel der Manager und Managerinnen in Deutschland (gleichauf mit dem weltweiten Durchschnitt) sind sehr besorgt, dass neugierige Menschen nicht zielorientiert arbeiten und dass Neugier zu einem erhöhten Risiko von Fehlern oder zu schlechten Entscheidungen (39 Prozent), zu größeren Schwierigkeiten bei der Führung von Mitarbeitenden (36 Prozent), zu größeren Schwierigkeiten, eine endgültige Entscheidung zu treffen (33 Prozent) und zu größeren Schwierigkeiten, schnell konkrete Maßnahmen zu ergreifen (33 Prozent), führen könnte. Es gibt also in Deutschland wie auch international eine große Minderheit von Führungskräften, die zugeben, dass es ihnen schwerfällt, Neugier mit Arbeitsleistung in Verbindung zu bringen (43 Prozent) und dass es ihnen überhaupt nicht möglich ist, Mitarbeitende oder gar Bewerber und Bewerberinnen mit Neugier kräfte glauben aber nicht, dass Neugier zu einer Steigerung der Effizienz oder der Gesamtleistung des Teams führt. 3. Produktivitätsorientierte Führungskräfte (32 Prozent der deutschen Führungskräfte gegenüber 24 Prozent weltweit). Diese Führungskräfte glauben, dass Neugier zu einer stärkeren Zusammenarbeit und Teamwork führen und die Effizienz und Produktivität am Arbeitsplatz steigern kann. Sie sind jedoch nicht der Meinung, dass Neugier die Integration und die Vielfalt der Gedanken fördert. 4. Anti-neugierige Führungskräfte (23 Prozent der deutschen Manager und Managerinnen gegenüber 16 Prozent weltweit). Diese Führungskräfte, die das kleinste Segment bilden, glauben nicht, dass Neugier einen Mehrwert für die Leistung oder den Arbeitsplatz darstellt. Auch wenn die Existenz von Anti-Neugier-Managern und -Managerinnen nicht verleugnet werden kann, so steht für die SAS-Studie doch fest, dass nur die Neugier dafür sorgt, dass Firmen wettbewerbsfähig bleiben. Bloß keine „Warum?“-Fragen stellen Die Befürchtung mancher Führungskräfte, dass ihre Mitarbeitenden ihnen durch dumme Fragen die Zeit stehlen könnten, ist nicht ganz unberechtigt – insbesondere, wenn man sich in Erinnerung ruft, wie sehr kleine Kinder ihre Elzu identifizieren (41 Prozent). Fast die Hälfte der Führungskräfte in Deutschland ist der Meinung, dass Mitarbeitende und Bewerbende heute zu viel Neugier haben (51 Prozent in Deutschland versus 35 Prozent weltweit). Deutschlands Führungskräfte werden von SAS in vier Kategorien eingeteilt: 1. Mitarbeitende mit hoher Neugier (17 Prozent der deutschen Führungskräfte gegenüber 35 Prozent weltweit). Das ist das Segment mit der größten Neugier. Diese Manager und Managerinnen legen Wert auf Zusammenarbeit, sind teamorientiert und unermüdlich auf der Suche nach Antworten. Sie tun dies, indem sie den Ideen ihrer Mitarbeitenden zuhören und sie wertschätzen und ständig nach Möglichkeiten suchen, ihre Fähigkeiten zu erweitern, aber sie sind zögerlicher, wenn neue Herausforderungen auftauchen. Diese auf Neugier ausgerichteten Manager und Managerinnen glauben, dass diese Eigenschaft zu größerer Effizienz und Produktivität bei der Arbeit und zu größerer Arbeitszufriedenheit führt. 2. Flexibilitätsorientierte Meinungsbildner (27 Prozent der deutschen Führungskräfte gegenüber 26 Prozent weltweit). Diese Manager und Managerinnen stellen sich gerne Herausforderungen, und die Möglichkeit, in Bedrängnis zu geraten, beeinträchtigt ihre Motivation nicht. Neugier führt zu größerer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in Zeiten der Ungewissheit und kann zu mehr Empathie am Arbeitsplatz führen. Diese Führungs- R Buchtipp I. Paul Ashcroft, Simon Brown, Garrick Jones: The Curious Advantage, Laiki, London 2020, 285 Seiten, 23,70 Euro Buchtipp II. Francis Buckley: Curiosity and its 12 Rules for Life, Encounter Books, New York 2021, 228 Seiten, 26,20 Euro Buchtipp III. Carl Naughton: Neugier – So schaffen Sie Lust auf Neues, Econ, Berlin 2018, 295 Seiten, 19,99 Euro

titelthema 22 wirtschaft + weiterbildung 03_2022 tern nerven, die mehrmals hintereinander „Warum?“ zu einem Thema fragen. Wenn Menschen in Sachen Neugier geschult werden, dann sollten sie als erstes lernen, keine Warum-Fragen zu stellen, fordert Carl Naughton in seinem Buch „Neugier“. Warum klingt nach Verhör. Stattdessen sollte man elegantere Fragen benutzen, mit denen der Fragende ehrliches Interesse zeigt. Solche Alternativen zu den „Warum-Fragen“ nennt Naughton „Neugier-Booster“: • „Was wäre, wenn …“ • „Ich würde gerne mehr wissen über…“ • „Wie würde sich das ändern, wenn …“ • „Was ist Ihre Erfahrung mit …“ • „Wie würden Sie …“ • „Mit wem würden Sie gerne an der Lösung arbeiten …“ Der Fragesteller zeigt so dem Befragten, dass er ihn wertschätzt, weil er sich ernsthaft mit seinen Gedanken auseinandersetzt. Gute Fragen, elegant verpackt, bringen nicht nur substanzhaltige Antworten, sondern können auch noch eine gute Beziehung zum Gesprächspartner aufbauen. Oberflächlicher Smalltalk ist keine Neugier In seinem Buch erzählt Naughton auch von der amerikanischen Einzelhandelskette Trader Joe‘s, die ihren Mitarbeitenden gezielt den oberflächlichen Smalltalk abgewöhnt hat. Sie wurden darin geschult, den Kunden oder die Kundin interessiert zu beobachten und zum Beispiel, falls er oder sie Sportklamotten trägt, zu fragen: „Wie lange betreiben Sie schon diese Sportart?“ Der Verkäufer soll sich also bemühen, einen persönlichen Gewinn aus dem Gespräch zu ziehen. Viele Verkäufer reden mit den Kunden folgerichtig nicht mehr über das Wetter, sondern über die WetterApp, die man so auf dem Smartphone hat. Und wenn jemand kein Smartphone hat, geht die Unterhaltung mit der Frage weiter, ob sich der Betreffende möglicherweise nach vielen Diskussionen bewusst dagegen entschieden hat. Eine gute Gelegenheit, Neugier einzuüben, besteht darin, in die üblichen Kommunikationsseminare ein paar Neugierspiele einzubauen: • Den Teilnehmenden wird ein Berg von Fotokarten und ein Berg von auf Zettel gedruckten Spruchweisheiten vor die Füße gelegt. Jeder sollte sich – geleitet vom Unbewussten – ein Foto und einen dazu passenden Spruch aussuchen und an einer Pinnwand befestigen. Anschließend betrachten alle, zu welchem Foto welcher Spruch ausgesucht wurde und es wird jeweils geraten, was der Kollege oder die Kollegin mit der Kombination verbinden könnte. Die Übung dient dazu, Offenheit für die Perspektiven anderer Menschen zu erzeugen. • Eine weitere Neugierübung besteht darin, dass die Seminarteilnehmenden aufgefordert werden, zu einem aktuellen Branchenthema spontan eine Prognose abzugeben. Bankangestellte könnten zum Beispiel vorhersagen müssen, ob die Zinsen oder die Aktienkurse im nächsten Quartal steigen oder sinken werden. Wer eine Prognose abgibt, wird mit der eigenen Unsicherheit konfrontiert und entsprechend hoch wird im Anschluss die Neugier sein, mehr Informationen zu bekommen, um sich gegebenenfalls am nächsten Seminartag korrigieren zu können (was erlaubt ist). Anschließend wird im Seminar diskutiert, was man aus Neugier alles getan hat und ob man sich zu Recherchegruppen zusammengeschlossen hat. Dieses Seminarspiel heißt bei Naughton „Speed Delphi“. Der wichtigste Lerneffekt: Die Mitspielenden zwingen sich zwecks Prognoseoptimierung, sich auch mit Meinungen von Leuten auseinanderzusetzen, die man sonst ignorieren oder gar verachten würde. • Es lebe der Transfer. Es lohnt sich, die Frage zu stellen, ob andere Menschen das Problem, das einen gerade beschäftigt, nicht schon längst gelöst haben. Neugierige Personen finden oft in der Natur, in der Wissenschaft oder in völlig fremden Brachen Problemlösungsansätze, die sie auf die eigenen Produkte oder Prozesse übertragen können. Aus einem Wirtschaftszweig wird externes Wissen auf den eigenen Wirtschaftszweig übertragen. Die Neugier, die einen über den eigenen Tellerrand schauen lässt, führt oft zu sogenannten Transferinnovationen. Die in anderen Bereichen vorhandenen Lösungen helfen, Denkbarrieren zu durchbrechen und Entwicklungszyklen zu beschleunigen. Man erzählt sich, dass Henry Ford, der Erfinder der Fließbandfertigung von Autos, die Abläufe in großen Schlachthäusern beobachtet haben soll. Die Erkenntnisse aus der Fleischverarbeitungsindustrie übertrug er auf die Produktion von Automobilen. Über Abstraktion, Analogiebildung und Adaption können durchaus großartige Innovationen entstehen. Schlaue Unternehmen senden ihre Mitarbeiter gerne zu Fachmessen und Fachkongressen anderer Branchen. Wichtig ist, dass die Mitarbeiter, die in die Welt hinausziehen, um Problemlösungen zu recherchieren, eine „Offenheit“ für fremdes Know-how haben. Learning Journey: Höhepunkt organisationaler Neugier Die japanischen Wissensmanager Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi haben es schon 1995 auf den Punkt gebracht: Wer innovativ sein will, muss sich neugierig in fremde Welten hineinbegeben und dort regelrecht eintauchen. So erfanden sie die „Learning Journey“: Die Delegation eines Unternehmens besucht ein anderes Unternehmen, um dort Antworten auf „unlösbar“ erscheinende Fragen zu finden. Das Motto einer „Learning Journey“ lautet: neugierig sein und verstehen. Jedes Unternehmen hat Schwächen (zu wenig zukunftsfähige Produkte, mangelnde Kundenorientierung, keine Internationalisierung, überholte Strategie). Eine Kernfrage zu jeder Schwäche wird nach folgendem Muster konstruiert: „Was können wir jetzt tun, damit wir in Zukunft das gewünschte X erreichen?“ Es ist sinnvoll, Unternehmen auszuwählen, die in der Wertschöpfungskette vor- oder nachgelagert sind. Wer mutig nach Innovationen sucht, sollte auch Firmen im Ausland oder Non-Profit-Organisationen besuchen. Die Gastgeber werden aufgefordert, kritische Punkte anzusprechen. Der Gastgeber hat die Rolle des Sparringspartners und im Idealfall sogar die des Advocatus Diaboli. Nach der Hälfte der Zeit werden die Rollen getauscht. Dann darf der Gastgeber sein Problem schildern, und die Besucher äußern Problemlösungsideen aus ihrer Praxis, sodass ein wechselseitiger Nutzen entsteht. Martin Pichler R

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