Wirtschaft und Weiterbildung 3/2022

R wirtschaft + weiterbildung 03_2022 29 stellt der Berater nüchtern, jedoch ohne Bedauern, fest. Denn auch der Charakter der Seminare hat sich seitdem verändert. Zur Jahrtausendwende war eine zentrale Funktion von Präsenzseminaren und -Trainings auch, dass die Teilnehmer sich persönlich kennen, verstehen und als Person schätzen lernen. Dies geschah zu einem großen Teil während der informellen Gespräche in den Pausen oder abends in der Bar des entsprechenden Tagungshotels. Diese finden heute in Seminaren kaum noch statt. Statt in den Pausen gemeinsam Kaffee zu trinken und zu schwatzen, ziehen sich die Teilnehmer heute in der Regel mit ihrem Handy in eine ruhige Ecke zurück, um dort zu telefonieren oder ihren Maileingang zu checken, stellt Doll bedauernd fest. Und abends sitzen die Teilnehmer nur noch selten gemeinsam in der Bar. Stattdessen erledigen sie in ihren Zimmern an ihren Laptops noch dringliche Aufgaben oder chatten mit Bekannten. Durch diese Veränderung des Sozialverhaltens ging eine zentrale Funktion der Präsenzseminare weitgehend verloren: die Netzwerkbildung. Deshalb denken viele Unternehmen, so Doll, zu Recht darüber nach, inwieweit man Präsenzseminare – die in der Regel eine hohe Investition an Zeit und Geld erfordern – durch OnlineTrainings ersetzen kann. Ab in den Müll mit den Lehr-videos auf VHS Ähnlich äußert sich der Weiterbildungsjournalist und Marketingberater Bernhard Kuntz, der die Entwicklung des Bildungs- und Beratungsmarkts im deutschsprachigen Raum seit über 30 Jahren „wohlwollend kritisch“ begleitet. Er ist überzeugt: „Die Weiterbildungslandschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental gewandelt. Im Alltag nimmt man diese Veränderungen, da sie schleichend verlaufen, aber kaum wahr.“ Sehr deutlich wurden ihm diese jedoch, als er im Oktober mit seinem Unternehmen umzog und sich in allen Einzelheiten überlegte: Welche Utensilien, die sich in den zurückliegenden fast 30 Jahren in unserem Büro angesammelt haben, nehme ich in unser neues Domizil mit? Als Erstes wanderten die gesammelten Jahrgänge von zwei, drei Jahrzehnten mehrerer Fachzeitschriften in den Müll. Ihnen folgten zahlreiche Klassiker der Managementliteratur aus dem vergangenen Jahrhundert, denn Kuntz wurde beim Ausräumen klar: In diese Zeitschriften und Bücher habe ich in letzten 15 Jahren nicht mehr geblickt, und dies werde ich auch künftig nicht mehr tun.“ Ebenfalls im Müllcontainer landeten Hunderte von (Lehr-)Videokassetten sowie CDs aus den 90er Jahren, die die Anfänge des E-Learnings beziehungsweise des Computer-Based-Trainings (CBT) in den Unternehmen dokumentieren. Damals waren diese Speichermedien der neueste Schrei, heute sind sie Relikte aus einer vergangenen Zeit. Weiterbildungsbedarf immer individueller Mit dem Thema E-Learning begannen sich die Personalverantwortlichen in den Unternehmen laut Aussagen der Wiener Wirtschaftspsychologin und (Online-) Trainerausbilderin Sabine Prohaska verstärkt kurz vor der Jahrtausendwende, also vor etwa rund 25 Jahren, intensiver zu befassen und zwar ausgehend von der Erkenntnis: • Der Veränderungs- und somit Lernbedarf in den Unternehmen ist heute oft so groß, dass er zentral, also zum Beispiel von deren Personalabteilungen nicht mehr erfasst werden kann. • Der Weiterbildungsbedarf ist aufgrund der verschiedenen Funktionen der Mitarbeiter und deren unterschiedlicher Vorerfahrung heute oft so individuell, dass er mit zentral entwickelten, standardisierten Weiterbildungsprogrammen alleine nicht mehr befriedigt werden kann. Deshalb wurde unter dem Begriff „Employability“ beziehungsweise Beschäftigungsfähigkeit in Personalerkreisen lebhaft darüber debattiert, inwieweit die Mitarbeiter künftig selbst dafür verantwortlich sein sollten, dass sie – kurz-, mittel- und langfristig – die Fähigkeiten haben, die sie zum Wahrnehmen gewisser Aufgaben und Funktionen im Unternehmen brauchen. Die Mitarbeiter sollten, wie der Braunschweiger Managementberater Joachim Simon betont, sozusagen „Selbstentwickler“ werden, und als ein geeignetes Tool hierfür wurden unter anderem elektronische Lernplattformen gesehen, mit deren Hilfe die Mitarbeiter das benötigte Wissen sich selbst aneignen können, und zwar dann, wenn sie es brauchen. Das E-Learning dümpelte lange Zeit vor sich hin Zum Einsatz kamen diese E-LearningPlattformen damals aber meist nur in Großunternehmen, konstatiert Hans-Peter Machwürth, Inhaber des Beratungsunternehmens Machwürth Team International (MTI), Visselhövede. Ein Grund hierfür war: Der Aufbau der hierfür erforderlichen IT-Infrastruktur und das Entwickeln der benötigten Lernprogramme war zum damaligen Zeitpunkt noch so teuer, dass sich diese Investition nur bei großen Mitarbeitergruppen lohnte. Entscheidender war jedoch laut Prohaska: Um die Jahrtausendwende waren die Zielgruppen der Weiterbildung „noch weitgehend Baby-Boomer, also keine Digital Natives, sondern Immigrants mit einer eher geringen Digitalkompetenz“. Entsprechend groß waren oft ihre Vorbehalte gegen ein computergestütztes Lernen, weshalb sie dies, wenn überhaupt, nur widerwillig taten. Deshalb erlahmte in den Folgejahren zunehmend die anfängliche Euphorie vieler firmeninterner Weiterbildner für das Thema E-Learning, zumal ein fundamentales Credo damals noch lautete: Online lässt sich zwar das kognitive Wissen, das Fachwissen, der Mitarbeiter trainieren, Einstellungs- und Verhaltensänderungen bei ihnen lassen sich so aber nicht herbeiführen. Viele Weiterbildner und mit ihnen externe Berater, Trainer und Coachs übersahen in den Folgejahren denn auch zwei Entwicklungen: • Spätestens ab dem Jahr 2007, als das erste I-Phone von Apple auf den Markt kam, entwickelten sich die sogenannten Smartphones zu einem alltäglichen Wegbegleiter nicht nur der jungen Menschen. • Spätestens ab dem Jahr 2010 waren nicht nur die meisten Weiterbildungs-

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