Wirtschaft und Weiterbildung 9/2022

training und coaching 36 wirtschaft + weiterbildung 09_2022 schließlich leichter, über die hanebüchenen Vorstellungen des Vertriebs oder die Engstirnigkeit der Produktionsabteilung zu sprechen, wenn die entsprechenden Kollegen und Kolleginnen nicht anwesend sind. Zudem darf der Einfluss der Anwesenheit von Vorgesetzten oder Kollegen aus bestimmten Abteilungen auf die Workshopsituation nicht unterschätzt werden. Wenn die eigenen Wortbeiträge von dem Chef oder der Chefin oder den Profis aus der Complianceabteilung vernommen werden, überlegt man sich in der Regel ganz genau, was man sagt – und was besser nicht. Und über informale, wenn auch brauchbare Abweichungen des eigenen Verhaltens im Organisationsalltag sprechen Organisationsmitglieder gemeinhin eher in vertrauten Zwiegesprächen als in größeren Zusammenkünften – und auch dann nur, wenn man die richtigen, zur detaillierten Schilderung animierenden Fragen und Nachfragen stellt, für die nur in Einzelgesprächen ausreichend Zeit zur Verfügung steht. Die vorbereitenden Gespräche haben nicht zuletzt die Funktion, die Teilnehmenden des Workshops bereits vor der eigentlichen Veranstaltung auf die Thematik einzustimmen, die relevanten Themen und Probleme bereits im Vorfeld zu durchdenken und sie über ihre eigenen Standpunkte und Argumente gewahr werden zu lassen. Wo es gelingt, Teilnehmende auf diese Weise bereits vor der Veranstaltung von der Relevanz der Thematik zu überzeugen und ihnen die eigenen Gestaltungschancen – oder auch potenziellen Verluste – vor Augen zu führen, lässt sich auch deren Motivation und der Umfang ihrer Vorbereitung auf die Veranstaltungen günstig beeinflussen. Der Clou einer umfänglichen Vorbereitung besteht schließlich darin, dass sich ein Großteil der eigentlichen Arbeit damit auf die Phasen vor dem Workshop verlagern lässt. Die tatsächlich relevanten Diskussionen und Entscheidungen erfolgen so bereits in den Sondierungsgesprächen beziehungsweise in der stillschweigenden Kontemplation einzelner Teilnehmenden, zu der sie durch die vorgelagerten Interaktionen veranlasst wurden. Der Workshop selbst hat dann häufig nur noch die Funktion, die bereits vorher ausgemachten Vorgehensweisen ein letztes Mal zu prüfen und offiziell zu entscheiden. Ziel der Vorbereitung: Positionen besser verteidigen können Daraus darf jedoch nicht der Fehlschluss gezogen werden, dass man auf den Workshop gänzlich verzichten könne – wo er doch nur noch als „Ratifizierungsgremium“ bereits feststehender Entscheidungen erscheint. Als Anlass und Bezugspunkt der vor- und nachgelagerten Interaktionen erfüllt die Veranstaltung weiterhin wichtige Funktionen. Die Durchführung der Sondierungsgespräche lässt sich mit dem Hinweis auf einen anstehenden Workshop einfacher rechtfertigen. Die wiederholten Absprachen mit den Auftraggebenden lassen sich mit dem Hinweis auf deren Notwendigkeit für das Gelingen des Workshops begründen. Für die Teilnehmenden fungiert das Veranstaltungsdatum zudem als Frist, bis zu der sie bestimmte Vorbereitungen abgeschlossen haben und ihren Standpunkt darlegen können müssen. Allein das Wissen darum, dass man die eigene Position im Rahmen einer besonders gerahmten Ausnahmeveranstaltung darlegen und verteidigen können muss, setzt Ressourcen und Anstrengungen frei, die sich beim Verzicht auf das Treffen schwerlich erreichen ließen. Durch eine intensive inhaltliche Vorbereitung des Workshops lässt sich gleichwohl nicht garantieren, dass sich die Teilnehmenden zum Veranstaltungszeitpunkt auf Entscheidungen verständigen werden. Gerade bei komplexen Themen führt das Aufeinandertreffen verschiedener Sichtweisen zunächst zu mehr Unsicherheit und die Entscheidung scheint oftmals noch schwerer zu fallen als vor der Veranstaltung. Wo sich dies während des Workshops abzeichnet, entsteht Unruhe – schließlich war man mit der Erwartung angereist, die Angelegenheit zu klären. In der Interaktion entwickelt sich dann schnell eine Dynamik, die zu voreiligen Entscheidungen führt. Um am Ende des Tages ein vorzeigbares, konkretes Arbeitsergebnis vorweisen zu können, werden schnell noch Aktionspläne erstellt, die die nächsten Schritte definieren. An der Güte dieser Pläne wird dann häufig der Erfolg der gesamten Veranstaltung gemessen. Ein Moderator, der am Ende eines Workshops nicht die Ergebnisse in Aktionslisten gegossen hat, handelt sich Kritik ein. Denn die Aktionspläne signalisieren allen Beteiligten, dass nicht nur „gequatscht“ wurde, sondern man über eine systematische Ergebnissicherung den Transfer der Gruppengespräche ins Alltagsgeschäft sichergestellt hat. Oftmals dienen diese Pläne jedoch mehr dieser unmittelbaren Befriedigung der Teilnehmenden, als dass sie eine tatsächliche Wirkung in der Organisation hätten. Statt vorschnelle Entscheidungen zu treffen und somit den Anschein erfolgter Verständigung aufrechtzuerhalten, kann es sinnvoll sein, diesen Schritt auf die Phase nach dem Workshop zu vertagen. Stefan Kühl (Universität Bielefeld, Metaplan), Jan Heilmann (Metaplan), Andreas Hermwille (Metaplan), Mascha Nolte (Universität Bielefeld) R Stefan Kühl. Der Hamburger ist Soziologieprofessor an der Universität Bielefeld und arbeitet als Organisationsberater für die Metaplan GmbH in Quickborn (www. metaplan.com). Foto: Pichler

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