Wirtschaft und Weiterbildung 4/2022

d“ Das Magazin für Führung, Personalentwicklung und E-Learning www.wuw-magazin.de wirtschaft weiterbildung Buddhismus_Pionier der Achtsamkeit verstorben S. 16 Zukunft_Lernbereitschaft und Lernfähigkeit gezielt fördern S. 34 Mittelstand_Was nach der Coronakrise besser werden muss S. 50 Verlorene Größe Insider: Aus der Vergangenheit von Daimler lernen S. 18 04_22 Mat.-Nr. 00107-5196

editorial wirtschaft + weiterbildung 04_2022 3 Ich wünsche Ihnen viel Erfolg! Kristina Enderle da Silva, Chefredakteurin es passiert jedes Mal: Wenn ich „Mercedes-Benz“ höre, erklingt in meinem Ohr die heisere Stimme von Janis Joplin mit der Zeile „Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz“. Was von ihr eigentlich als Konsumkritik gedacht war, hat sich durch die Verwendung der Musik in diversen Werbespots ins Gedächtnis gebrannt: der Mercedes als mächtiges Statussymbol. Doch diese Macht entspricht nicht mehr dem aktuellen Konzerngeschehen, wie unsere Titelgeschichte aufzeigt. Der Stern hat beträchtlich an Größe verloren. Das Prestigeunternehmen geht nun getrennte Wege mit der Mercedes-Benz AG und der Daimler-Truck AG. Ein erstaunlicher Weg, wenn man bedenkt, dass die Herausforderungen der Digitalisierung und der Dekarbonisierung beide Sparten gleichermaßen treffen – doch die Synergien bleiben nun ungenutzt. Wie es dazu kommen konnte, welche Managementfehler passiert sind, welche Lehren sich daraus ziehen lassen, erläutert unser Autor Willi Diez. Er hat selbst zwölf Jahre für den Konzern gearbeitet. Ganz anders klingen die Ausführungen von Gunnar Kilian, HR-Vorstand von VW, in einem Interview zur Transformation in der Automobilbranche mit unserer Schwesterzeitschrift „Personal Quarterly“ (2/2022). Darin betont er das Streben nach Kooperation: „Transformation kann im Übrigen nur gelingen, wenn wir industrieweit Kräfte bündeln. (...) Denn den Übergang in die neue Epoche der Digitalisierung können wir nicht als Einzelgänger bestehen.“ Im Interview kommt auch klar heraus, dass die Bewältigung der Transformation in der Mobilitätsbranche eine Frage der Führung ist. Dabei sind weniger die Visionen gefragt, die die Geschäftsführung entwickeln und vorantragen sollen – derer gab es bei Mercedes-Benz einige, die Diez treffend beschreibt. Vielmehr geht es konkret darum, die Mitarbeitenden bei ihren Ängsten und Bedürfnissen abzuholen und mitzunehmen auf dem Weg der Transformation – mithilfe von Weiterbildungsangeboten und neuen Qualifizierungswegen. Sie als Personalentwickler oder Personalentwicklerin sind also gefordert. Liebe Leserinnen und Leser,

inhalt 04_2022 4 wirtschaft + weiterbildung 04_2022 06 blickfang aktuell 08 Nachrichten Neues aus der Weiterbildungsbranche: aktuelle Studien, Umfragen und Tipps menschen 14 „Jeder sollte sich persönlich entwickeln“ Der Gründer der DM Drogeriemärkte, Götz W. Werner, ist im Alter von 78 Jahren verstorben. Er kümmerte sich vorbildlich um die Entwicklung seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 16 Trauer um den „Pionier der Achtsamkeit“ Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh gilt als wichtiger Vertreter eines modernen Buddhismus und als Vorreiter der Achtsamkeitsmeditation. Nun ist er im Alter von 95 Jahren verstorben. titelthema 18 Verlorene Größe „Symbol für deutsche Tüchtigkeit“ nannte das Magazin „Der Spiegel“ im Jahr 1985 den dreizackigen Stern, das Markenzeichen der Daimler-Benz AG. Doch mit Daimler ging es schneller bergab als man erwarten konnte. Schuld war auch eine übertriebene Orientierung an den jeweiligen Managementmoden. Strategie. Daimler-Benz war lange ein Beispiel dafür, dass der Wiederaufstieg Deutschlands zu einer der führenden Wirtschaftsnationen gelungen ist. Ein Insider beschreibt den langsamen Verlust an Größe, der dazu führte, dass ausländische Investoren mittelfristig die Macht im Konzern übernehmen könnten. Barbara Liebermeister. Die Trainerin und Beraterin erforscht Ansätze zur „Führung auf Distanz“. 24 personal- und organisationsentwicklung 24 Beziehung zur Belegschaft neu definieren Die Coronapandemie war ein „Gamechanger“ in Sachen Führung und Zusammenarbeit. Eine Umfrage des Frankfurter IFIDZ-Instituts von Barbara Liebermeister unter 482 Führungskräften zeigte, dass Themen wie „Führung auf Distanz“ in Zukunft immer wichtiger werden. 30 Vom Vorarbeiter zum Beziehungsgestalter Führung entsteht in der sozialen Interaktion durch Beziehungen und einem Austausch von Ideen, Meinungen und Bedürfnissen. Dies war in der Urzeit so und wird auch in der Zukunft so bleiben. Das heißt im Klartext: Das wirkliche Recht auf Führung musste man sich schon immer verdienen. 34 Neue Lernräume schaffen Lernfähigkeit und Lernbereitschaft von Mitarbeitenden sind unabdingbar für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens. Doch wie lässt sich dies fördern? Das Beispiel des Unternehmens D&B Audiotechnik zeigt, wie sich die Lernmotivation steigern lässt und sich messbare Erfolge erzielen lassen. Das Konzept fußt auf selbstorganisiertem Lernen. 18

wirtschaft + weiterbildung 04_2022 5 Psychologie. Neben den „inneren Antreibern“ können auch „innere Kritiker“ viel Unheil anrichten. training und coaching 38 Coaching-Apps und Coaching-Chatbots kommen Die Digitalisierung im Coaching hat durch Corona einen enormen Schub bekommen – und der geht durchaus über Coaching-Sitzungen via Zoom hinaus. Erste Anbieter haben schon Coaching-Chatbots und Coaching-Apps entwickelt, die ganz ohne einen Coach aus Fleisch und Blut auskommen. 42 Mit dem inneren Kritiker Freundschaft schließen Selbstkritik ist wichtig, um aus Erfahrungen zu lernen. Doch wenn wir permanent mit uns hadern und an uns zweifeln, bewirken wir das Gegenteil. Um im Leben voranzukommen, sollten wir Selbstmitgefühl zeigen und Freundschaft mit unserem „inneren Kritiker“ schließen. 46 Kulturelle Unterschiede von Anfang an ernst nehmen Das wird schon funktionieren. Nach dieser Maxime planen Unternehmen häufig Projekte, an denen Personen aus verschiedenen Ländern mitwirken, denn sie unterschätzen mitunter die kulturellen Unterschiede im Bereich Kommunikation und Kooperation. Diese Kurzsichtigkeit erweist sich – so unsere Expertin – als Fehler. 50 Was der Mittelstand aus der Coronakrise lernen sollte Mittelständler haben zu Beginn der Coronapandemie die Krisensignale erkannt, aber nicht unmittelbar gehandelt. Sie haben eine steile Lernkurve hingelegt, das Erlernte jedoch noch nicht vollständig in neue Prozesse umgesetzt, kritisieren die WHU Otto Beisheim School of Management und die Beratung FTI-Andersch. Kultur. Menschen aus unterschiedlichen Kontinenten sollten ihre Fähigkeit zur Zusammen- arbeit erst einmal in einem Workshop trainieren. 42 46 52 fachliteratur 56 kolumne 58 zitate Rubriken 03 editorial 51 vorschau 51 impressum

blickfang 6 wirtschaft + weiterbildung 04_2022 WER Das Foto zeigt Wladimir Putin. Er ist seit dem Jahr 2000 Präsident der Russischen Föderation und wartet offenbar auf einen Staatsgast, der zu Verhandlungen nach Moskau gereist ist. WAS Der Tisch, ein Einzelstück, das sechs Meter lang und 2,60 Meter breit ist, erlangte in den Medien eine gewisse Berühmtheit, weil sich Putin hier gerne als unnahbarer Alleinherrscher inszeniert. UND SONST Das Bild ist ein offizielles Foto des bekannten Kremlfotografen Mikail Klimentyev von der Bildagentur Sputnik, das weltweit von Getty Images vertrieben wird. Die Einsamkeit eines Hierarchen. Über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist schon sehr viel geschrieben worden. Uns bleibt nur, der Sache einen „Systemischen“ Aspekt hinzuzufügen: Das Foto ist ein Symbol für Putins Stellung als absoluter Alleinherrscher. Fritz B. Simon, einer der Pioniere der Systemtheorie in Deutschland, warnte in seinem Blog “Simons Kehrwoche“ am 23. Februar. Jeder Hierarch zahle einen hohen Preis, weil ängstliche Mitarbeiter ihm nie die Wahrheit sagten. Simon: „Ein Hierarch geht das Risiko ein, zu verblöden.“ Der Sinn von Hierarchie sei zwar, schnelle Entscheidungen zu treffen. Aber ein Hierarch müsse auch Kritik einfordern, sonst bekomme er die Wirklichkeit nicht mit und scheitere. Wie das Leben so spielt: Im März 2022 erschien die dritte Auflage von Simons hintergründigem Buch „Tödliche Konflikte: Zur Selbstorganisation privater und öffentlicher Kriege“ (Carl Auer Verlag). Foto: MIKHAIL KLIMENTYEV / Kontributor / gettyimages.de

8 wirtschaft + weiterbildung 04_2022 MBA „Financial Times“ lobt deutsche Business Schools Edutuber, also Youtuber, die auf ihrem Youtube-Kanal ein spezielles Wissen und das dazu passende ProblemlösungsKnow-how vermitteln, gehört die Zukunft, sagen 91 Prozent der Expertinnen und Experten, die vom MMB Learning Delphi 2021 befragt wurden. Häufig sind Edutuber Fachleute, die die Videos neben aktuell MMB LEARNING DELPHI Der „Edutuber“ als neues Geschäftsmodell zent, Vorjahr 87 Prozent) und den Erklärfilmen (93 Prozent, Vorjahr 90 Prozent) eine größere Bedeutung in der Zukunft zugesprochen wird. An der 16. Ausgabe der alljährlich durchgeführten Trendstudie „MMB Learning Delphi“ (www.mmbinstitut.de) haben sich insgesamt 70 E-Learning-Experten und -Expertinnen beteiligt. Das Handelsblatt ist im vergangenen Jahr 615 mal von anderen deutschen Medien zitiert worden. Damit liegt es im Zitate-Ranking der Wirtschaftsmedien auf Platz eins und deutlich vor einigen großen Mitbewerbern. Das Handelsblatt lag vor der britischen „Financial Times“ und den US-Publikationen „Wall Street Journal“ und „Forbes“ sowie der ebenfalls zur Verlagsgruppe Handelsblatt gehörenden „Wirtschaftswoche“. Das geht aus der jährlichen Auswertung der Marktforschungsgesellschaft Media Tenor hervor. Außer der Coronakrise steigerte im Jahr 2021 eine exklusive Berichterstattung zum Skandal um Wirecard das Interesse am Handelsblatt. ZITATE-RANKING Tonangebend ihrer eigentlichen Lehrtätigkeit an einer Schule oder Universität erstellen und die durch ihre Art, Lerninhalte anschaulich und unterhaltsam darzustellen, eine große „Fangemeinde“ aufgebaut haben. Beliebt ist Mathenachhilfe (vorbildlich: „Mathe by Daniel Jung“) genauso wie eine berufliche Weiterbildung, um ein besserer Die deutschen MBA-Schmieden hätten im internationalen Wettbewerb aufgeholt, meinte die britische Wirtschaftszeitung „Financial Times“ am 21. Februar und überschrieb ihren Artikel mit „The rise of German business schools“. Einen wichtigen Grund für den Aufstieg sehen die Briten darin, dass sich die Business Schools endlich vom Humboldtschen Bildungsideal („Bildung als ein Selbstzweck, der auf die volle Entfaltung eines Menschen und seiner Potenziale abzielt“) verabschiedet hätten. Man bekenne sich jetzt auch in Deutschland dazu, Eliten zu fördern. Als ein weiterer Grund wird die Notwendigkeit genannt, dass deutsche Top-Manager – und insbesondere die Ingenieure unter ihnen – einen Executive MBA (EMBA) bräuchten, um mit der Globalisierung klarzukommen. Auch vom Brexit haben die deutschen Business Schools laut Financial Times profitiert. Der Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt sei den internationalen Studenten einer britischen Business School versperrt, während in Deutschland mit abgeschlossenem Studium selbst Nicht-Europäer die Chance auf Arbeit hätten. Außerdem habe die Pandemie wohl dazu geführt, dass deutsche Studenten lieber in Deutschland blieben. Foto: Proxima Studio / AdobeStock Entscheider, Börsenspekulant oder „nur“ ein erfolgreicher Handwerker zu werden. Corona zwingt den Einzelnen offenbar dazu, sich selbst im Internet um seine Weiterbildung zu kümmern und bei Problemen Youtube-Content von Vorbildern zu Rate zu ziehen. Dazu gehört auch, dass den Learning Nuggets (94 Pro-

wirtschaft + weiterbildung 04_2022 9 Kurz und Knapp Test. Bei Otto in Hamburg (Onlineshopping-Plattform) können Interessierte im Rahmen ihres Bewerbungsprozesses freiwillig eine Persönlichkeitsanalyse durchführen lassen. Sie erhalten die Ergebnisse vor dem Vorstellungsgespräch. Die Persönlichkeitsanalyse stammt von Linc, einer Ausgründung der Universität Lüneburg. Beratung. 93 Prozent der deutschen Mittelständler sehen bei sich einen Bedarf für eine externe Beratung. Das hängt direkt damit zusammen, dass aufgrund des Fachkräftemangels die Unternehmen kein Problemlösungs-Knowhow mehr haben. Das geht aus einer Befragung von kleinen und mittleren Unternehmen im Auftrag der Baulig Consulting hervor. BDU. Der Fachverband „Change Management“ im Bundesverband Deutscher Unternehmensberater (BDU) fordert von den Berufstätigen, sich selbst besser zu organisieren und dynamischer auf Veränderungen zu reagieren. Dazu wurde ein kostenloses Positionspapier veröffentlicht (www. bdu.de/news/entscheidung-zurselbstorganisation-ist-chefin-undchefsache/). Auch das noch. Martin Wehrle, seit Anfang der 2000er Jahre selbstständig als Karriereberater, ist nicht nur ein Bestsellerautor („Ich arbeite in einem Irrenhaus“), sondern auch erfolgreicher Youtuber. Im Februar 2022 konnte er den 500.000 Abonnenten seines Youtube-Kanals („Coaching- und Karrieretipps“) begrüßen. Zeitgleich gab er bekannt, dass er trotz aller Erfolge ab dem 1. April 2022 für sechs Monate unauffindbar in irgendeiner Einöde verschwinden will. Wir wünschen eine gesunde Rückkehr mit vielen neuen Ideen. Denkleistung lässt erst ab 60 nach UNIVERSITÄT HEIDELBERG Ab dem 20. Lebensjahr gehe es mit der Leistungsfähigkeit des Hirns bergab, hieß es früher. Jetzt hat die Uni Heidelberg herausgefunden: Die geistige Leistungsfähigkeit der Menschen bleibt bis zum 60. Lebensjahr stabil und erst nach dem 80. Geburtstag verschlechtert sich die mentale Geschwindigkeit. Die Wissenschaftler um Mischa von Krause vom Psychologischen Institut der Universität Heidelberg betonen: Personen bis zum Alter von etwa 60 Jahren werden nur motorisch (!) langsamer, aber ihre mentale Geschwindigkeit sinkt nicht. Ältere könnten zwar genauso schnell denken wie jüngere, aber sie wägten einfach mehr Faktoren gegeneinander ab, was letztlich ihre EntscheiHonorare von weiblichen Coachs sinken MIDDENDORF/COACHING-UMFRAGE Die von deutschen Unternehmen an weibliche Business-Coachs gezahlten Stundensätze sanken im Jahr 2021 durchschnittlich um 10,8 Prozent von 190,85 Euro auf 170,26 Euro, während die Stundensätze ihrer männlichen Kollegen um 3,8 Prozent stiegen und zwar von 182,40 Euro auf 189,26 Euro. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den privat bezahlten Stundensätzen (Coachee als Selbstzahler). Die Stundensätze weiblicher Coachs fielen auch hier überproportional um 10,7 Prozent von 135,40 Euro auf 120,95 Euro, während die Stundensätze ihrer männlichen Kollegen um 4,7 Prozent von 131,80 Euro auf 138,04 Euro stiegen. Das ergab die jährliche „Coaching-Umfrage“, die Jörg Middendorf (www.bcokoeln.de) im Herbst 2021 diesmal zusammen mit Georg Fischer (www.denkstelle. de) und dem Verlag Managerseminare durchgeführt hat. Die komplette Umfrage („Weiterbildungsszene 2022 – der deutsche Coaching-Markt in Zahlen“) kann für 99,50 Euro bei www. trainingaktuell.de erworben werden. Die Coaching-Umfrage ist nicht repräsentativ, aber sie punktet damit, dass beachtliche 1.576 Coachs ihre Einkünfte offenlegten. dungen langsamer mache. Die Heidelberger Forscher haben selbst keine Menschen getestet, sondern nur bereits bekannte (1,2 Millionen) Datensätze der Hirnforschung mit einem mathematischen Modell neu durchforstet. Fazit: Das, was die Forscher mentale Verarbeitungsgeschwindigkeit nennen (das Tempo, mit der Informationen verarbeitet werden, um zu einer Entscheidung zu kommen), bleibt stabil auf einem gleichbleibenden Niveau bis zum 60. Lebensjahr.

aktuell 10 wirtschaft + weiterbildung 04_2022 Immer mehr Menschen machen sich so heftige Sorgen um ihr Leben, dass eine psychische Entgleisung droht. Das zeigen Daten der KKH Kaufmännische Krankenkasse, Hannover. So nahmen behandlungsbedürftige Angsterkrankungen von 2010 auf 2020 im Schnitt um rund 39 Prozent zu, bei Männern sogar um 58 Prozent. Auffallend hoch ist der Anstieg bei jungen Menschen. Bei den 18- bis 24-Jährigen stiegen Angsterkrankungen um 51 Prozent, bei den 12- bis 17-Jährigen sogar um gut 82 Prozent. „Das sind alarmierende Zahlen“, sagt die Krankenkasse – zumal alle Daten (obwohl sie erst jetzt veröffentlicht wurden) aus der Zeit vor Corona stammen. Krankhafte Ängste gelten neben Depressionen als die häufigsten psychischen Erkrankungen. „Betroffene haben eine übersteigerte Furcht vor bestimmten Situationen, Personen oder Gegenständen, die für ihre Mitmenschen normal und nicht bedrohlich sind. Ihre Sorgen bestimmen das Denken, Fühlen und Handeln dauerhaft KKH-STUDIE Immer mehr Menschen geraten in eine Angstspirale BOSTON UNIVERSITY SCHOOL OF MEDICINE Optimistische Alte leben dank weniger Stress gesünder und nehmen ihr Leben in den Klammergriff“, betont Dr. Aileen Könitz, Ärztin und Expertin für psychiatrische Fragen bei der KKH. „Betroffene fühlen sich ohnmächtig und hilflos. Aus Furcht vor Panik und Kontrollverlust ziehen sie sich aus dem sozialen Leben zurück und vereinsamen.“ Doch die Flucht – sei es durch Unterdrücken der Gefühle oder deren Betäubung mit Alkohol oder Beruhigungstabletten – führt in die Sackgasse. Denn unbegründete Ängste Immer mehr wissenschaftliche Beweise stützen einen Zusammenhang zwischen Optimismus und einem auffällig gesunden Altern. Laut der Forscherin Lewina Lee, einer Mitarbeiterin des Boston Healthcare System, steht jetzt wissenschaftlich nachvollziehbar fest: Menschen mit mehr können chronisch werden und zu Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Sucht führen. Zu den Ursachen von Angststörungen zählen Gewalterfahrungen, Scheidung oder finanzielle Sorgen, aber auch Stress sowie eine genetische Veranlagung. Über alle Altersgruppen hinweg dürften die Globalisierung und Digitalisierung und der damit verbundene Wandel sozialen Miteinanders sowie existenzielle Risiken Angststörungen forcieren. KKH Zentrale. Die KKH betreut ihre 1,6 Millionen Versicherten von Hannover aus. Foto: KKH Optimismus gehen mit dem täglichen Stress konstruktiver um und daher zeigen sie viel mehr emotionales Wohlbefinden. Forscher haben 233 ältere Männer begleitet, die zuerst einen Fragebogen zu ihrem Optimismus beantworteten. 14 Jahre später berichteten sie an acht aufeinander folgenden Abenden von den alltäglichen Stressfaktoren sowie von positiven und negativen Stimmungen. Optimistischere Männer berichten nicht nur von weniger negativen Stimmungen, sondern auch von mehr positiver Stimmung. Sie haben auch weniger Stressfaktoren angegeben, was nicht mit ihrer positiveren Stimmung zusammenhängt, sondern ihre geringeren Werte bei negativen Stimmungen erklärt. Studien haben zunehmend die Vorstellung unterstützt, dass Optimismus eine Ressource sein könnte, die eine gute Gesundheit und Langlebigkeit fördern könnte. Die Studie ergab, dass optimistische Menschen mit alltäglichen Stressoren anders umgehen, sodass ihr Optimismus sich positiv auf die Gesundheit auswirken kann. Die Forschungsergebnisse wurden in den „Journals of Gerontology, Series B: Psychological Sciences and Social Sciences“ veröffentlicht.

wirtschaft + weiterbildung 04_2022 11 Im Rahmen seiner Trendstudie „MMB Learning Delphi 2021/2022“ frage das MMB-Institut in Essen auch nach der Bedeutung von diversen Veranstaltungen für die digitale Bildungswirtschaft. Hierbei behauptete sich die Learntec in Karlsruhe wieder an der Spitze. 78 Prozent sprechen ihr eine große Bedeutung für die kommenden drei Jahre zu (Vorjahr: 82 Prozent). Einen großen Sprung nach vorne gab es für die BitkomBildungskonferenz, die 2021 nur virtuell stattfand (53 Prozent, Vorjahr 33 Prozent). Ähnlich sieht es für die Zukunft-Personal-Veranstaltungen mit verschiedenen Formaten aus. Fast die Hälfte aller Befragten (48 Prozent) sieht hier bei der Zukunft Personal und ihren Ablegern eine große Bedeutung. Im Vorjahr waren es nur 34 Prozent. Auch die verschiedenen Angebote des Corporate Learning Camps (CLC) haben sich verbessert (52 Prozent, Vorjahr 46 Prozent). Rückläufig ist der Trend hingegen bei der Didacta (43 Prozent, Vorjahr 52 Prozent). Die Online Educa Berlin (OEB) wurde mit 42 Prozent bewertet (Vorjahr 48 Prozent). ZUKUNFT PERSONAL SÜD Wiedersehen nach zwei Jahren Pause Nach zwei Jahren Pause trifft sich die HR-Community wieder in „echt“ auf der „Zukunft Personal Süd“ und der „Corporate Health Convention“. Beide Messen finden parallel vom 5. bis 6. April 2022 in Stuttgart statt (www.zukunft-personal. com). Die „Zukunft Personal Süd“ kümmert sich um Themen wie Recruiting, Weiterbildung, Digitalisierung sowie Leadership und New Work. Die „Corporate Health Convention“ bietet Einblicke in das betriebliche Gesundheitsmanagement. Auf der Zukunft Personal Süd wird es fünf Vortragsbühnen geben und auf der Corporate Health zwei. Als Keynote-Speakerinnen haben Yasmin Weiss und Kati Wilhelm bereits zugesagt. Yasmin Weiss, BWL-Professorin Learntec trotz Coronakrise bedeutendstes E-Learning-Event MMB-DELPHI und Start-up-Gründerin stellt in ihrer Rede ihre Studie „Wie die jungen Raketen ticken“ vor. Kati Wilhelm, erfolgreiche Biathletin bei den Olympischen Spielen, ARD-Expertin und „Meisterin der Entscheidungsfindung“ vermittelt in ihrer Keynote, dass Entscheidungsfreude erlernbar ist. Die Besucher und Besucherinnen können sich auf an die 120 Vorträge auf der Zukunft Personal Süd und 50 Vorträge auf der Corporate Health freuen – zum Beispiel wurde der populäre „Rücken- und Gesundheitspapst“ Dietrich Grönemeyer für einen Vortrag gewonnen. „Nach zwei Jahren Pause sind wir froh, wieder in Stuttgart zu sein“, sagt Sandra Reis, Event Director beim Messeveranstalter Spring Messe Management GmbH.

aktuell 12 wirtschaft + weiterbildung 04_2022 Leider spüren viele Kunden immer häufiger die negativen Folgen der virtuellen oder hybriden Zusammenarbeit bei ihren Dienstleistern und Lieferanten. So beklagte zum Beispiel ein Kunde von mir unlängst beim gemeinsamen Mittagessen, dass er zunehmend das Vertrauen in die Steuerkanzlei, mit der er seit über 20 Jahren zusammenarbeite und die auch die Lohnabrechnung für seine Mitarbeiter mache, verliere. Seit die Kanzleimitarbeiter weitgehend im Homeoffice arbeiteten, also verstärkt virtuell zusammenarbeiteten, häuften sich in ihrer Arbeit die Fehler. So seien zum Beispiel Steuerunterlagen noch ein halbes Jahr nach dem Umzug seines Unternehmens wiederholt an die alte Büroadresse geschickt worden. So seien per Mail mitgeteilte Infos über das Ausscheiden von Mitarbeitern und Lohnänderungen bei den Lohnauswertungen nicht berücksichtigt worden. Über solche Defizite klagen Kunden gehäuft – und zwar insbesondere … • bei Unternehmen, die für ihre Kunden recht komplexe (Dienst-)Leistungen erbringen, die eine Zusammenarbeit mehrerer Mitarbeiterbereiche auf Seiten des Leistungserbringers erfordern • wenn ein Unternehmen (wie der Steuerberater) mehrere Leistungen für einen Kunden erbringt, die von unterschiedlichen Mitarbeitern oder Bereichen erbracht werden. Dann spüren die Kunden oft nicht nur in der Auftragsabwicklung, sondern auch bei der Betreuung einen aus der virtuellen Zusammenarbeit resultierenden Mangel an Kommunikation und Koordination. Dies kann speziell für Unternehmen, die primär von Stammkunden leben und bei denen die Vertrauensbeziehung zu ihren Kunden ein zentraler Erfolgsfaktor ist, fatale Folgen haben. Denn staut sich bei Kunden mit der Zeit ein Unmut über die gesunkene Arbeits- oder Betreuungsqualität an, platzt ihnen irgendwann der Kragen. Der Dienstleister fällt aus allen Wolken: „Jahrzehntelang haben wir doch gut zusammengearbeitet.“ Stimmt! Deshalb sah der Kunde ja lange über die Nachlässigkeiten hinweg. Doch irgendwann ist die gute Zusammenarbeit in der Vergangenheit Schnee von gestern. Entsprechend wichtig wäre es zurzeit einmal systematisch zu analysieren: • Inwieweit hat sich durch die virtuelle oder hybride Zusammenarbeit die Qualität unserer Leistung aus Kundensicht verändert? • Wo sollten wir deshalb unsere Prozesse überdenken und eventuell neue Standards definieren, um unseren Kunden weiterhin eine Top-Qualität zu bieten? • Inwieweit haben sich durch die veränderte Zusammenarbeit auch die Anforderungen an unsere Führungskräfte verändert? Zudem sollten sie gemäß der Formel „Menschen-Tools-Prozesse“ ermitteln: Welche (digitalen) Tools können wir außer zum Optimieren unserer Prozesse nutzen? Dies zu tun, wird umso dringlicher, je stärker sich die virtuelle und hybride Zusammenarbeit zum neuen Normal in den Betrieben entwickelt. Denn im Verlauf dieses Prozesses verändern sich auch die Erwartungen ihrer Kunden. In den ersten Monaten nach dem Ausbruch der Pandemie waren sie noch bereit, „situationsbedingt“ über gewisse Unzulänglichkeiten in der Auftragsbearbeitung und Kundenbetreuung bei ihren Dienstleistern und Lieferanten hinwegzusehen. Doch heute – also zwei Jahre später – erwarten sie schlicht, dass Kommunikation und Kooperation reibungslos funktionieren. Gastkommentar Wirklich alles paletti im Homeoffice? Peter Schreiber Peter Schreiber ist Inhaber der B2B-Vertriebs- und Managementberatung Peter Schreiber & Partner in Ilsfeld bei Heilbronn (www.schreiber-training.de). Er ist unter anderem auch Dozent an der IHK-Akademie München in Westerham und Referent bei WEKA Industriemedien in Wien. Coronabedingt sahen viele Abnehmer über gewisse Unzulänglichkeiten ihrer Lieferanten hinweg. „ „

wirtschaft + weiterbildung 04_2022 13 zubereiteten. Der Durchschnittsgast soll keinen Unterschied zu handgemachtem Essen geschmeckt haben. Startups wie „Da Vinci Kitchen“ aus Leipzig oder „Aitme“ aus Berlin entwickeln solche Roboter, die Die meistverkauften Wirtschaftsbücher 2021 „Die größte Chance aller Zeiten“, so lautet das meistverkaufte Wirtschaftsbuch des Jahres 2021. Dessen Autor Marc Friedrich ist bekannt als Crash-Prophet mit einem Hang, Anlagen in Gold und Bitcoins attraktiv zu finden. Als Autor zeigt er, dass er sehr gut Angst verbreiten kann. Er veröffentlicht im Finanzbuch Verlag in München, der auch das am zweitmeisten verkaufte Wirtschaftsbuch des Jahres 2021 verlegt. Es handelt sich um „Think an Grow Rich“ von Napoleon Hill. Das Buch ist die deutsche Ausgabe eines US-amerikanischen Positiver-Denken-Ratgebers aus dem Jahr 1937. Die ungekürzte und unveränderte Originalausgabe steckt voll von längst widerlegten Ratschlägen wie man durch ständige Affirmationen zu einem optimistischen Menschen wird, der jeden schlimmen Schicksalsschlag aus eigener Kraft in einen Sieg verwandeln kann. Auch den dritten Platz auf der BestBUSINESS-BESTSELLER Rang Titel Autor/Verlag 1 Die größte Chance aller Zeiten. ... Friedrich, Marc / Finanzbuch 2 Think and Grow Rich (dt. Ausgabe) Hill, Napoleon / Finanzbuch 3 Elon Musk Vance, Ashlee; Musk, Elon / Finanzbuch 4 Der Aktien- und Börsenführerschein Sander, Beate / Finanzbuch 5 Anlegen mit ETF Linder, Hans G.; Klotz, Antonie; Wallstabe-Watermann, Brigitte; Baur, Dr. Gisela / Stiftung Warentest 6 Souverän investieren mit Indexfonds und ETFs Kommer, Gerd / Campus 7 It‘s now Kugel, Janina / Ariston 8 Working Class Friedrichs, Julia / Berlin Verlag 9 Souverän investieren für Einsteiger Kommer, Gerd / Campus 10 Meine Spielzüge Struth, Volker / Piper Jahresbestsellerliste Wirtschaft 2021 Ranking. Die Zeitschrift „Buchreport“ hat im Februar die (gemessen an den Verkäufen des letzten Jahres) „Wirtschaftsbücher des Jahres 2021“ veröffentlicht. Digitalisierung: Roboter kocht ohne menschliche Hilfe PERSONALMANGEL/TAGUNGSHOTELS Künstliche Intelligenz (Artificial Intelligence, kurz AI) ermöglichte es bei den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking, dass sogenannte Kochroboter (Foto) warme Speisen ohne die Hilfe eines Menschen mit ihren Greifern Mahlzeiten zubereiten und an einer Theke ausgeben. Gemüse, Nudeln, Kartoffeln oder Fleisch werden vorher in normalen Küchen vorbereitet und in Vorratsbehältern den Robotern zum Portionieren bereitgestellt. Solange Vorrat da ist, kochen Roboter ohne Pause. Ein Lunch-Roboter von Aitme kann bis zu 120 Gerichte pro Stunde schaffen. Und das bei einer Auswahl von bis zu acht Speisen. Die Firmengründer von Aitme in Berlin, Emanuel Pallua und Julian Stoß, sagten dem „Focus“ (8/2022), sie hofften, dass ihr Robo-Koch bald so selbstverständlich sein werde wie eine Kaffeemaschine. Ihre rund neun Quadratmeter große Anlage brauche nur einen Strom- und einen Wasseranschluss. Die Anlage erscheine wie ein Kühlschrank, der kochen könne, meinte Stoß. Gesteuert und überwacht werde sie über die Cloud. Die Roboter kommen zur richtigen Zeit. Seit Jahren wird die Kochausbildung durch anstrengende Arbeitszeiten immer unbeliebter. 80 Prozent der Hotels und Gaststätten beklagen laut Dehoga derzeit einen schmerzhaften Personalmangel. Auswärts essen wird hingegen immer beliebter. Ein Trend, der die Gastronomie derzeit zunehmend auf Fertigprodukte zurückgreifen lässt. sellerliste konnte der Finanzbuchverlag erobern – und zwar mit einem Buch, das der Milliardär Elon Musk über sich und seine Unternehmen selbst geschrieben hat und das den Titel „Elon Musk“ trägt. Die bereits 2015 erschienene Biografie „Elon Musk“ ist nicht zuletzt durch die vielen Schlagzeilen um den Tesla-Chef relevant geblieben. Foto: VCG / Kontributor / gettyimages.de

menschen 14 wirtschaft + weiterbildung 04_2022 PERSÖNLICHKEIT. Der Gründer der DM-Drogeriemärkte, Götz W. Werner, ist im Alter von 78 Jahren verstorben. Er kümmerte sich vorbildlich darum, dass seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen immer fähiger wurden, sich selbst weiterzuentwickeln. Im Gegenzug forderte er von ihnen die Bereitschaft, notwendige Veränderungen mitzutragen. Götz W. Werner wurde als Sohn eines Drogisten 1944 in Heidelberg geboren. Es war sein größter Wunsch, eines Tages selbst Drogist zu werden. Er absolvierte eine Drogistenlehre in Konstanz und trat nach abgeschlossener Ausbildung zunächst in die väterliche „Drogerie Werner“ ein. Seine Ideen fanden bei seinem recht autoritären Vater jedoch keinen Anklang, also verließ er 1969 seine Heimatstadt Heidelberg und trat in das Karlsruher Unternehmen „Drogerie Roth“ ein. Auch dort konnte sich Werner nicht durchsetzen. Er entschloss sich im Jahr 1973 in Karlsruhe den „DM-Drogeriemarkt“ zu gründen und verwirklichte das Discounter-Prinzip (Selbstbedienung und billige Preise aufgrund von Großeinkäufen). Hoher Gestaltungsspielraum für Mitarbeiter Werner hatte einen unbändigen Drang, innovative Ideen auszuprobieren und er ging davon aus, dass seine Mitarbeiter grundsätzlich unzufrieden sind mit den bestehenden Verhältnissen und sie vom Willen beseelt sind, ihren Arbeitgeber mit Verbesserungsvorschlägen immer wieder zu verändern. Anfang der 1990er Jahre erhielten die DM-Filialen Selbstverantwortung. Heute bestimmen sie ihr Sortiment und ihre Dienstpläne selbst. Zum Teil werden die Vorgesetzten und sogar die Gehälter im Team bestimmt. Dieser Gestaltungsspielraum der Mitarbeiter gilt als Grund für eine hohe Mitarbeiter- und auch Kundenzufriedenheit. Seine besondere Art der Unternehmens- „ Jeder sollte sich entwickeln können“ führung löste im Handel und in der Wirtschaft allgemein Verwirrung aus: Werner setzte auf eine unautoritäre „dialogische Führung“. Er zog den Dialog jeder Form von Anweisung vor. Von seinen Filialleitern forderte er, eine ständige „Offenheit für Neues“. Der DM-Drogeriemarkt ist heute in 14 europäischen Ländern aktiv. Mehr als 66.000 Menschen bilden europaweit eine Gemeinschaft. DM ist mit einem Jahresumsatz von 12,3 Milliarden Euro Marktführer in Europa. Die mehr als 42.000 DMMitarbeiter in Deutschland erwirtschafteten einen Jahresumsatz von 9,04 Milliarden Euro. DM ist zudem bei den Kunden der beliebteste Händler im Lebensmitteleinzelhandel, so das Ergebnis der Verbraucherbefragung „Kundenmonitor Deutschland 2021“. Ideale Führungskultur Werner war bekennender Anthroposoph und versuchte, die Persönlichkeit seiner Mitarbeiter nach den Idealen der Anthroposophie zu entwickeln: • ein Unternehmen muss eine Fragekultur entwickeln, die zum „Selberdenken“ anregt • der Vorgesetzte ist Freund und Begleiter seiner Untergebenen und unterstützt bei der Zielerreichung • der Wunsch nach Selbstständigkeit wird respektiert • Verabredungen sind gemeinsam zu treffen, deren Erfolg oder Götz Werner. Der Unternehmer engagierte sich auch politisch und forderte auf dem Web-2.0-Kongress „Republica“ das bedingungslose Grundeinkommen für alle. Foto: AFP / Freier Fotograf / gettyimages.de

wirtschaft + weiterbildung 04_2022 15 Misserfolg ist gemeinsam zu analysieren und das weitere Vorgehen gemeinsam zu beraten • ein gereifter Chef will verstehen, was seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bewegt • ein gereifter Chef riskiert, anderen auch in schwierigen Situationen zu vertrauen. Die Personalentwicklung wird als Selbstfindungsprozess begriffen. Das Internetportal www.anthroposophie-lebensnah.de betont: „Selbermachen“ macht schon dem kleinen Kind weit mehr Freude, als alles Mögliche abgenommen zu bekommen von demjenigen, der es „besser“ kann. Personalentwicklung regt im Verständnis der Anthroposophie deshalb an erster Stelle den Drang zur Eigentätigkeit an. Auszubildende sind Lernlinge Eine Besonderheit stellte Götz Werners Ausbildungskonzept dar, das mehrere Auszeichnungen erhielt. Alle Auszubildenden („Lernlinge“ genannt) absolvieren während ihrer Ausbildung zwei Mal ein achttägiges Theaterprojekt. Mit Unterstützung von Profis sollen sie dadurch „Team- und Kommunikationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, zielgerichtetes wie situationsangemessenes und flexibles Handeln“ einüben. Ziel ist es, sie mit einer Firma vertraut zu machen, die sich schließlich als „lernendes Unternehmen“ versteht. „Götz Werner ist im Hauptberuf ein Begeisterer. Einer, der nicht an die Trägheit glaubt, sondern an die Antigravitation, den Auftrieb“, das sagte der ebenfalls in Karlsruhe lebende Philosoph Peter Sloterdijk über Götz Werner. Dessen Ehrgeiz kann man übrigens auch an seinen sportlichen Erfolgen ablesen. Werner brachte es zu Erfolgen im Leistungssport des Ruderns. Im Gegensatz zu seinem Vater praktizierte Werner sein Leben lang einen humanen, dialogorientierten Führungsstil und gab seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen große Entscheidungsspielräume. Nach eigenen Angaben maß der DM-Gründer dem Arbeitsklima einen höheren Stellenwert bei als dem Unternehmensprofit. Für ein bedingungsloses Grundeinkommen Im Jahr 2008 nahmWerner seinen Abschied aus der operativen Verantwortung und widmete seine Zeit der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens, für die er in vielen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen warb. In ihr sah er einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag, um auch in Zeiten zunehmender Globalisierung, Digitalisierung und Automatisierung den Menschen Freiraum für Eigeninitiative zu ermöglichen und die Teilnahme wie die Teilhabe am Leben der freien Bürgergesellschaft zu ermöglichen. Dass er die Vollendung dieser Idee nicht mehr erleben würde, war ihm stets bewusst. Martin Pichler Buchtipp. Götz Werner: „Mit Vertrauen führen“, Concadora Verlag, Stuttgart 2021, 176 Seiten, 24,90 Euro

menschen 16 wirtschaft + weiterbildung 04_2022 BUDDHISMUS. Neben dem Dalai Lama galt der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh als wichtiger Vertreter eines modernen Buddhismus. Nun ist Thich Nhat Hanh, der lange Jahre in den USA und in Frankreich lebte, im Alter von 95 Jahren in seiner Heimat verstorben. Auch in Deutschland war er aktiv und gründete im Jahr 2008 in Waldbröl das „Europäische Institut für angewandten Buddhismus“. Der wohl bemerkenswerteste Nachruf auf den Buddhisten Thich Nhat Hanh stammt von einem Mitglied des katholischen Franziskanerordens. Pater Richard Rohr, der in den USA das „Center for Action and Contemplation“ (www.cac.org) leitet, schrieb im „Time Magazine“ vom 14. Februar 2022, dass er Thich Nhat Hanh schon allein deshalb bewundere, weil dieser die Meinung vertreten habe, dass kein Individuum der nächste Buddha sein sollte, sondern eine Gemeinschaft. Der Franziskaner stimmte ihm zu: „Wir brauchen keinen individuellen Messias mehr. Wir brauchen konkrete Gemeinschaften von Menschen, die über einen längeren Zeitraum hinweg in einer liebevollen, gewaltfreien Beziehung leben.“ Der Hinweis darauf, dass es neben einer individuellen Erleuchtung beim Meditieren auch eine gemeinschaftsorientierte Erleuchtung geben könne, sei „das größte Geschenk“, das Thich Nhat Hanh der Menschheit gemacht habe. Achtsam sein – besonders gegenüber den eigenen negativen Gefühlen Das „Time Magazine“ nannte den Vietnamesen einen „Pioneer of mindfulness“. Und in der Tat, Thich Nhat Hanh modernisiere die Achtsamkeitsmeditation und gab ihr eine neue Richtung, die auch das Zusammenleben mit anderen verbessern soll. Neu war die Botschaft, dass die Achtsamkeit sich auch auf die eigenen Gefühle richten muss, denn negative Gefühle Trauer um den „Pionier der Achtsamkeit“ können nicht nur dem Einzelnen, sondern auch seinem Umfeld schaden. Thich Nhat Hanhs Auslegung der Lehre Buddhas forderte vom Einzelnen, die eigene Meditationspraxis immer in Bezug zum Dienst am Mitmenschen zu sehen. Beides sei nicht voneinander zu trennen, wenn man sich für den Frieden in der Welt engagieren will. Das Motto hieß: „Peace in oneself – Peace in the world“. Bevor man nicht mit sich selbst Frieden geschlossen hat und zum Beispiel den Hass auf sich selbst oder ein aggressives Verhalten sich selbst gegenüber nicht beendet hat, werde man seinen Mitmenschen beziehungsweise seiner Gemeinschaft keine Hilfe sein können. Der Friedensaktivist Thich Nhat Hanh hat Millionen von Menschen erstmals gezeigt, wie wichtig die Achtsamkeit für ein glückliches, zukunftsbejahendes Zusammenleben in einer Gruppe und letztlich auch auf der ganzen Welt ist. Grundsätzlich definierte Thich Nhat Hanh Achtsamkeit als eine Kunst, in jedem Moment geistig präsent zu sein und in der Gegenwart zu leben. Der Mensch sei so beschaffen, dass dazu ein stetiges, aktives Bemühen erforderlich sei. Emotionen unheilsamer oder gar negativer Art wie Ärger, Wut, Angst oder Verzweiflung sollten besonders achtsam beobachtet werden. Durch unerschütterliche Achtsamkeit könne es zum Teil schon gelingen, dass negative Emotionen abgeschwächt werden. Durch eine regelmäßige Anwendung von Achtsamkeitsmeditationen könnte schließlich sogar die „Essenz der Dinge“ erfasst werden. Foto: Alexei Sysoev / AdobeStock

wirtschaft + weiterbildung 04_2022 17 Hinnerk Polenski, Zen-Meister und Abt des europäischen Dashin Zen Ordens und des Zen-Klosters Buchenberg im Allgäu, praktiziert seit mehr als 30 Jahren den Zen-Weg des Buddhismus (www.daishinzen.de). Polenski veröffentlichte einen Nachruf auf Thich Nhat Hanh auf Youtube und hob darin besonders hervor, dass der Verstorbene nicht nur die Gabe hatte, den traditionellen, aus Indien kommenden Buddhismus an die westlichen Kulturen anzupassen, sondern dass er zusätzlich noch das Talent besaß, Bücher zu schreiben, die für alle interessierten Menschen leicht zu lesen und zu verstehen waren. In vielen seiner Bücher fänden sich weder buddhistische Fachbegriffe noch religionsgeschichtliche Theorien oder dogmatische Texte über einen angeblich einzig wahren Weg zur Vollkommenheit. Buddhistische Weisheiten für den Westen in einfacher Sprache Polenski empfiehlt „Umarme deine Wut“ (Knaur) aus dem Jahr 2020, in dem es um den Umgang mit negativen Gefühlen geht. Sehr viel gekauft wurde auch das Buch „Das Wunder der Achtsamkeit: Einführung in die Meditation“ (Kamphausen) aus dem Jahr 2009. Thich Nhat Hanh stellt darin 32 selbst entwickelte Achtsamkeitsübungen vor, die laut Verlag das Wunder der Achtsamkeit in jedem Moment des Lebens erfahrbar machen. In einfacher, zum modernen westlichen Leben passender Sprache formulierte Thich Nhat Hanh auch die legendären fünf Regeln, die die buddhistische Grundlage für eine globale Spiritualität und Ethik sein sollen. Sie sind ein konkreter Ausdruck der Lehren des Buddha, die zu Heilung, Transformation und Glück in uns und in der Welt führen sollen. Die fünf Regeln (auch „die fünf Achtsamkeitsübungen“ genannt) lauten stark verkürzt (und ausführlich bei www.institut-achtsame-kommunikation.de ausführlich nachzulesen): 1. Ich mache es mir zur Aufgabe, nicht zu töten und keine Form des Tötens zu unterstützen, weder in der Welt noch in meinem Denken oder in meiner Lebensweise. Ich werde üben, Gewalt, Fanatismus und Dogmatismus in mir selbst und in der Welt zu transformieren. 2. Ich mache es mir zur Aufgabe, nicht zu stehlen und nichts zu besitzen, was anderen zusteht. Ich werde meine Zeit, Energie und materiellen Mittel mit denen teilen, die sie brauchen. 3. Ich mache es mir zur Aufgabe, mich in sexuellen Dingen verantwortungsbewusst zu verhalten. Keine sexuelle Beziehung, ohne wahre Liebe und die Bereitschaft zu einer Bindung. 4. Ich mache es mir zur Aufgabe, wahrhaftig zu sprechen. Leiden entsteht auch durch unachtsame Rede und aus der Unfähigkeit, anderen zuzuhören. 5. Ich mache es mir zur Aufgabe, Drogen und Süchte zu meiden. Ich achte auf meine körperliche und geistige Gesundheit. Martin Pichler Thich Nhat Hanh. Sein zentrales Buch („The sun, my heart“) erschien auf Deutsch („Die Sonne, mein Herz“) bei Kamphausen in Bielefeld.

UNTERNEHMENSSTRATEGIE. „Symbol für deutsche Tüchtigkeit“ nannte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ im Jahr 1985 den dreizackigen Stern, das Markenzeichen der Daimler-Benz AG. Die Automobilfabrik war damals das Beispiel dafür, dass der Wiederaufstieg Deutschlands zu einer führenden Wirtschaftsnation gelungen war. Doch mit Daimler ging es schneller bergab, als man denken konnte. Verlorene Größe Foto: THOMAS KIENZLE / Kontributor / gettyimages.de titelthema R LESSONS LEARNED ... ... für Daimler-Aktionäre:

01. starke Persönlichkeiten können mit Charisma Kontrollmechanismen unterlaufen 02. der Wahn eines Einzelnen kann über die Einsicht der Vielen siegen 03. Kontrolleure sollten die zu Kontrollierenden niemals bewundern

titelthema 20 wirtschaft + weiterbildung 04_2022 Der erste, der das Gefühl hatte, dass es bei Daimler-Benz mit der alten Herrlichkeit schon bald vorbei sein könnte, war Edzard Reuter (Vorstandsvorsitzender von 1987 bis 1995). Er traute der alten „Größe“ nicht, sah sie an vielen Stellen gefährdet und auch schon im Sinken begriffen. Mit seiner Vision vom integrierten Technologiekonzern wollte er neue Horizonte eröffnen, das Unternehmen zu neuer, nicht nur wirtschaftlicher Größe führen. Die aufkommende Mikroelektronik sowie die Informations- und Kommunikationstechnologie haben in den 1980er-Jahren nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den gesellschaftlichen Diskurs bestimmt. Deutschland lag auf diesen Feldern im internationalen Vergleich weit zurück. Technologiekonzern Reuter wollte mit Daimler-Benz diesen Rückstand aufholen und das Land zu einer der führenden Nationen im Bereich der Hochtechnologie machen. Weil das nicht nur er so sah, sondern auch andere, war das Unternehmen nun plötzlich in Technologiebereichen relevant, die mit dem Auto nur noch begrenzt etwas zu tun hatten. Daimler-Benz galt als Speerspitze im Kampf gegen die Übermacht amerikanischer und japanischer Hightech-Konzerne. Schon bald verzettelte Reuter sich, was auch daran lag, dass er auf die falschen Partner gesetzt hatte. Hätte sich Edzard Reuter statt mit einem traditionsreichen, in großen Teilen aber maroden, deutschen Elektronikkonzern mit einem der aufstrebenden Start-ups im Silicon Valley verbündet – vielleicht wären dann schon im Jahr 2010 die ersten autonomen Mercedes-Autos in Los Angeles, Shanghai oder Berlin unterwegs gewesen. Reuter schaffte es nicht, dem Konzern zu neuer Größe zu verhelfen, stattdessen beschleunigte sich in seiner Amtszeit der Verfall der alten Größe, was allerdings nicht allein seine Schuld war. Weltkonzern Jürgen Schrempp (von 1995 bis 2005 Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG und der Daimler-Chrysler AG) stellte die Uhr wieder auf null und war zu den Ursprüngen von Daimler-Benz, dem Automobilgeschäft im Zentrum aller wirtschaftlichen Aktivitäten, zurückgekehrt. Darauf war er stolz, dafür wurde er an der Börse und in den Medien gefeiert. Aber Schrempp hatte viel zu viel persönlichen Ehrgeiz, um es beim „Aufräumen“ zu belassen. Der Bau von hochwertigen Personenkraftwagen und robusten Nutzfahrzeugen war für einen Mann, der einen „Kick“ suchte, zu wenig. Statt „Technologie“ machte er die „Globalisierung“ zur Leitlinie seiner Strategie und folgte damit ebenfalls einem Trend. Er glaubte, dass in einer globalisierten Welt die schiere quantitative Größe der Schlüssel für das Überleben von Unternehmen sei. Basierend auf der wissenschaftlich unbewiesenen, aber dem Alltagsverstand plausiblen Behauptung, dass es weltweit in einer nicht allzu fernen Zukunft nur noch sechs Automobilhersteller geben könne, setzte er Daimler-Benz in Bewegung, um zu eben jenen sechs glücklichen Unternehmen zu gehören. Auch in dieser Strategie lag das Potenzial, Daimler zu neuer Größe zu führen, aus dem „größten schwäbischen Mittelständler“ eine „Welt AG“ neuen Zuschnitts zu machen. Man darf daher auch den vielen gutmeinenden und willigen Zeitgenossen, die ihn unterstützt haben und die der Meinung waren, nun müsse die Wirtschaftsgeschichte neu geschrieben werden, keinen Vorwurf machen. Doch Schrempp vergriff sich nicht nur bei der Wahl seiner Partner, er hatte auch kein Konzept, was er denn aus seiner Welt AG nun eigentlich machen wollte. So wurde er schon bald zum Totengräber seiner eigenen Vision. Die Fallhöhe war beträchtlich. Der Niedergang des Unternehmens setzte sich fort. Mobilitätskonzern Als Dieter Zetsche (von 2006 bis 2019 Vorstandsvorsitzender der Daimler AG) die Verantwortung übernahm, war das Drama um die Welt AG noch nicht zu Ende gespielt, das Drehbuch für ein „Bad Ending“ aber schon geschrieben. Zetsche drehte die Uhr zurück, rettete das Unternehmen, begann damit, die Trümmer des geplanten Weltreichs aufzuräumen und stellte die Weichen auf Wachstum. Mit seinem „Feuern aus allen Rohren“ machte er aus Mercedes-Benz wieder den – gemessen an den verkauften Stückzahlen – größten Hersteller von Premiumautomobilen der Welt. Die Marktführerschaft bei hochwertigen Automobilen war ihm, dem „Car Guy“, wichtig – wichtig für das Image der Marke Mercedes-Benz, wichtig für die Reputation der Daimler AG und sicherlich auch wichtig für sein Standing im Unternehmen und in der Öffentlichkeit. Mit seinem Satz: „Wenn wir weiterhin nur das tun, was wir so gut gemacht haben, sind wir erledigt“, leitete er eine R 04. unternehmerische Entscheidungen sind niemals alternativlos und ... 05. ... meistens gibt es sogar mehrere Alternativen, die alle auf den Tisch müssen 06. formale Entscheidungswege können informell manipuliert und ausgehebelt werden

wirtschaft + weiterbildung 04_2022 21 Wende ein. Sie sollte das Unternehmen nicht nur vor dem Untergang bewahren, sondern es auch zu neuer Größe führen. Vor dem Hintergrund der wachsenden ökologischen und gesellschaftlichen Belastungen durch den motorisierten Individualverkehr, der automobilen Aufrüstung bei einigen amerikanischen Tech-Konzernen und dem bemerkenswerten Erfolg von Tesla, waren manche Gewissheiten in der Branche ins Wanken geraten. Aber Zetsche erkannte, dass die Herausforderungen, denen sich die Automobilindustrie gegenübersah, nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance waren, die Chance, mit Daimler zu neuen Ufern aufzubrechen. Sein Strategieprogramm CASE sollte der Weg sein, um aus einem Automobilhersteller einen „Mobilitätskonzern“ zu machen. Von dieser Vision fühlten sich viele gesellschaftliche Gruppen angesprochen. Auch in der Politik wurden Zetsche und das Unternehmen wieder gefragte Dialogpartner, wenn es um die Mobilität der Zukunft ging. Als noch während seiner Amtszeit viele CASE-Projekte gestoppt oder in Kooperationen umgeleitet wurden, lag das nicht daran, dass sie irrelevant geworden wären, sondern schlicht daran, dass dem Unternehmen auf dem Weg zum Mobilitätskonzern das Geld auszugehen drohte. Zum Sargnagel für CASE wurde schließlich der Dieselskandal, nachdem klar war, dass die rechtliche Aufarbeitung und Beendigung der Klagen den Konzern viel, sehr viel Geld kosten würden. Schrempps • War es eine unglückliche Modellpolitik, die in der monströsen S-Klasse von 1991 kulminierte? • War es der Merger of Equals (mit Chrysler), der großartig begann und in einem Desaster endete? • War es die Jagd nach Stückzahlen, um wieder Nummer eins im Premiumsegment zu werden? • War es der Dieselskandal, der das Unternehmen nicht nur viel Geld, sondern auch Reputation und Vertrauen gekostet hat? Es gibt in der Chronologie jener 40 Jahre viele Ereignisse und Entscheidungen, die sich im Nachhinein als schicksalhaft erwiesen haben. Und doch befriedigt ihre bloße Aufzählung nicht. Jedes dieser Ereignisse, jede dieser Entscheidungen war für sich genommen nicht existenzgefährdend. Sie waren umkehrbar und sind auch wieder korrigiert worden. Doch dann, kaum waren die alten Probleme gelöst, „aufgeräumt“, ging es wieder von Neuem los, zog eine Fehlentscheidung die andere nach sich. Gewiss, es gab in diesen 40 Jahren auch Phasen des Aufschwungs, aber gerade in diesen Aufschwungphasen wurden dann wieder Weichenstellungen vorgenommen, die geradewegs in eine neue Krise geführt haben. Das Unternehmen dauerhaft zu neuer Größe zu führen, ist niemandem gelungen. Man kann die Geschichte von Daimler zwischen 1980 und 2021 nicht nur als eine Geschichte von Irrtümern und Fehlern erzählen, sondern auch als eine Geschichte der verpassten Chancen. Kaum ein anderer Automobilhersteller hat sich so früh und vor allem so intensiv mit alternativen Antriebskonzepten und Kraftstoffen beschäftigt wie Daimler. Die jahrzehntelange Arbeit an der Brennstoffzelle ist dafür nur ein, zweifellos aber das herausragendste und zugleich traurigste Beispiel. Kaum ein anderer Automobilhersteller hat sich auch so früh und intensiv mit Fragen des Verkehrsmanagements, mit Mobilitätskonzepten, ja sogar mit dem autonomen Fahren beschäftigt wie Daimler. Doch keine dieser Überlegungen und Initiativen war von Dauer. Wer anders als Daimler hätte angesichts der Aktivitäten, die schon in den 1980er-Jahren begonnen Nachfolger im Amt des Vorstandsvorsitzenden wurde Ola Källenius. Der schwedische Manager ist seit dem 22. Mai 2019 Vorstandsvorsitzender der MercedesBenz Group AG. Er hat die Rückkehr zu einem kleinen, aber feinen Hersteller von begehrenswerten Luxusautos eingeleitet. Die Daimler-Benz AG, die im Jahr 1926 gegründet wurde, wurde vor diesem Hintergrund am 1. Dezember 2021 in die Mercedes-Benz AG (Automobile) und die Daimler Truck AG (Lastwagen) aufgeteilt. Das war ein ausgesprochen historischer Augenblick: Zwei neue Unternehmen gehen an den Start. Beide werden an der Börse notiert. Den Niedergang erforschen Wenn man die 40 Jahre zwischen 1980 und 2020 überblickt, stellt sich ganz zwangsläufig die Frage, wie es so weit kommen konnte, was den Niedergang der einstmals so unangreifbaren und stolzen Daimler-Benz AG verursacht oder zumindest ausgelöst hat: • War es die Entscheidung Anfang der 1980er-Jahre, die Kapazitäten für die PKW-Produktion massiv auszuweiten, die in der Folge zu einer Erosion des alten, erfolgreichen Geschäftsmodells geführt hat? • War es die Übernahme des angeschlagenen Luft- und Raumfahrtunternehmens Dornier, die schon bald einen Rattenschwanz weiterer verfehlter Firmenübernahmen nach sich gezogen hat? R Foto: PHILIPPE HUGUEN / Staff / gettyimages.de

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