wirtschaft + weiterbildung 04_2022 21 Wende ein. Sie sollte das Unternehmen nicht nur vor dem Untergang bewahren, sondern es auch zu neuer Größe führen. Vor dem Hintergrund der wachsenden ökologischen und gesellschaftlichen Belastungen durch den motorisierten Individualverkehr, der automobilen Aufrüstung bei einigen amerikanischen Tech-Konzernen und dem bemerkenswerten Erfolg von Tesla, waren manche Gewissheiten in der Branche ins Wanken geraten. Aber Zetsche erkannte, dass die Herausforderungen, denen sich die Automobilindustrie gegenübersah, nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance waren, die Chance, mit Daimler zu neuen Ufern aufzubrechen. Sein Strategieprogramm CASE sollte der Weg sein, um aus einem Automobilhersteller einen „Mobilitätskonzern“ zu machen. Von dieser Vision fühlten sich viele gesellschaftliche Gruppen angesprochen. Auch in der Politik wurden Zetsche und das Unternehmen wieder gefragte Dialogpartner, wenn es um die Mobilität der Zukunft ging. Als noch während seiner Amtszeit viele CASE-Projekte gestoppt oder in Kooperationen umgeleitet wurden, lag das nicht daran, dass sie irrelevant geworden wären, sondern schlicht daran, dass dem Unternehmen auf dem Weg zum Mobilitätskonzern das Geld auszugehen drohte. Zum Sargnagel für CASE wurde schließlich der Dieselskandal, nachdem klar war, dass die rechtliche Aufarbeitung und Beendigung der Klagen den Konzern viel, sehr viel Geld kosten würden. Schrempps • War es eine unglückliche Modellpolitik, die in der monströsen S-Klasse von 1991 kulminierte? • War es der Merger of Equals (mit Chrysler), der großartig begann und in einem Desaster endete? • War es die Jagd nach Stückzahlen, um wieder Nummer eins im Premiumsegment zu werden? • War es der Dieselskandal, der das Unternehmen nicht nur viel Geld, sondern auch Reputation und Vertrauen gekostet hat? Es gibt in der Chronologie jener 40 Jahre viele Ereignisse und Entscheidungen, die sich im Nachhinein als schicksalhaft erwiesen haben. Und doch befriedigt ihre bloße Aufzählung nicht. Jedes dieser Ereignisse, jede dieser Entscheidungen war für sich genommen nicht existenzgefährdend. Sie waren umkehrbar und sind auch wieder korrigiert worden. Doch dann, kaum waren die alten Probleme gelöst, „aufgeräumt“, ging es wieder von Neuem los, zog eine Fehlentscheidung die andere nach sich. Gewiss, es gab in diesen 40 Jahren auch Phasen des Aufschwungs, aber gerade in diesen Aufschwungphasen wurden dann wieder Weichenstellungen vorgenommen, die geradewegs in eine neue Krise geführt haben. Das Unternehmen dauerhaft zu neuer Größe zu führen, ist niemandem gelungen. Man kann die Geschichte von Daimler zwischen 1980 und 2021 nicht nur als eine Geschichte von Irrtümern und Fehlern erzählen, sondern auch als eine Geschichte der verpassten Chancen. Kaum ein anderer Automobilhersteller hat sich so früh und vor allem so intensiv mit alternativen Antriebskonzepten und Kraftstoffen beschäftigt wie Daimler. Die jahrzehntelange Arbeit an der Brennstoffzelle ist dafür nur ein, zweifellos aber das herausragendste und zugleich traurigste Beispiel. Kaum ein anderer Automobilhersteller hat sich auch so früh und intensiv mit Fragen des Verkehrsmanagements, mit Mobilitätskonzepten, ja sogar mit dem autonomen Fahren beschäftigt wie Daimler. Doch keine dieser Überlegungen und Initiativen war von Dauer. Wer anders als Daimler hätte angesichts der Aktivitäten, die schon in den 1980er-Jahren begonnen Nachfolger im Amt des Vorstandsvorsitzenden wurde Ola Källenius. Der schwedische Manager ist seit dem 22. Mai 2019 Vorstandsvorsitzender der MercedesBenz Group AG. Er hat die Rückkehr zu einem kleinen, aber feinen Hersteller von begehrenswerten Luxusautos eingeleitet. Die Daimler-Benz AG, die im Jahr 1926 gegründet wurde, wurde vor diesem Hintergrund am 1. Dezember 2021 in die Mercedes-Benz AG (Automobile) und die Daimler Truck AG (Lastwagen) aufgeteilt. Das war ein ausgesprochen historischer Augenblick: Zwei neue Unternehmen gehen an den Start. Beide werden an der Börse notiert. Den Niedergang erforschen Wenn man die 40 Jahre zwischen 1980 und 2020 überblickt, stellt sich ganz zwangsläufig die Frage, wie es so weit kommen konnte, was den Niedergang der einstmals so unangreifbaren und stolzen Daimler-Benz AG verursacht oder zumindest ausgelöst hat: • War es die Entscheidung Anfang der 1980er-Jahre, die Kapazitäten für die PKW-Produktion massiv auszuweiten, die in der Folge zu einer Erosion des alten, erfolgreichen Geschäftsmodells geführt hat? • War es die Übernahme des angeschlagenen Luft- und Raumfahrtunternehmens Dornier, die schon bald einen Rattenschwanz weiterer verfehlter Firmenübernahmen nach sich gezogen hat? R Foto: PHILIPPE HUGUEN / Staff / gettyimages.de
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