Wirtschaft und Weiterbildung 4/2022

titelthema 20 wirtschaft + weiterbildung 04_2022 Der erste, der das Gefühl hatte, dass es bei Daimler-Benz mit der alten Herrlichkeit schon bald vorbei sein könnte, war Edzard Reuter (Vorstandsvorsitzender von 1987 bis 1995). Er traute der alten „Größe“ nicht, sah sie an vielen Stellen gefährdet und auch schon im Sinken begriffen. Mit seiner Vision vom integrierten Technologiekonzern wollte er neue Horizonte eröffnen, das Unternehmen zu neuer, nicht nur wirtschaftlicher Größe führen. Die aufkommende Mikroelektronik sowie die Informations- und Kommunikationstechnologie haben in den 1980er-Jahren nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den gesellschaftlichen Diskurs bestimmt. Deutschland lag auf diesen Feldern im internationalen Vergleich weit zurück. Technologiekonzern Reuter wollte mit Daimler-Benz diesen Rückstand aufholen und das Land zu einer der führenden Nationen im Bereich der Hochtechnologie machen. Weil das nicht nur er so sah, sondern auch andere, war das Unternehmen nun plötzlich in Technologiebereichen relevant, die mit dem Auto nur noch begrenzt etwas zu tun hatten. Daimler-Benz galt als Speerspitze im Kampf gegen die Übermacht amerikanischer und japanischer Hightech-Konzerne. Schon bald verzettelte Reuter sich, was auch daran lag, dass er auf die falschen Partner gesetzt hatte. Hätte sich Edzard Reuter statt mit einem traditionsreichen, in großen Teilen aber maroden, deutschen Elektronikkonzern mit einem der aufstrebenden Start-ups im Silicon Valley verbündet – vielleicht wären dann schon im Jahr 2010 die ersten autonomen Mercedes-Autos in Los Angeles, Shanghai oder Berlin unterwegs gewesen. Reuter schaffte es nicht, dem Konzern zu neuer Größe zu verhelfen, stattdessen beschleunigte sich in seiner Amtszeit der Verfall der alten Größe, was allerdings nicht allein seine Schuld war. Weltkonzern Jürgen Schrempp (von 1995 bis 2005 Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG und der Daimler-Chrysler AG) stellte die Uhr wieder auf null und war zu den Ursprüngen von Daimler-Benz, dem Automobilgeschäft im Zentrum aller wirtschaftlichen Aktivitäten, zurückgekehrt. Darauf war er stolz, dafür wurde er an der Börse und in den Medien gefeiert. Aber Schrempp hatte viel zu viel persönlichen Ehrgeiz, um es beim „Aufräumen“ zu belassen. Der Bau von hochwertigen Personenkraftwagen und robusten Nutzfahrzeugen war für einen Mann, der einen „Kick“ suchte, zu wenig. Statt „Technologie“ machte er die „Globalisierung“ zur Leitlinie seiner Strategie und folgte damit ebenfalls einem Trend. Er glaubte, dass in einer globalisierten Welt die schiere quantitative Größe der Schlüssel für das Überleben von Unternehmen sei. Basierend auf der wissenschaftlich unbewiesenen, aber dem Alltagsverstand plausiblen Behauptung, dass es weltweit in einer nicht allzu fernen Zukunft nur noch sechs Automobilhersteller geben könne, setzte er Daimler-Benz in Bewegung, um zu eben jenen sechs glücklichen Unternehmen zu gehören. Auch in dieser Strategie lag das Potenzial, Daimler zu neuer Größe zu führen, aus dem „größten schwäbischen Mittelständler“ eine „Welt AG“ neuen Zuschnitts zu machen. Man darf daher auch den vielen gutmeinenden und willigen Zeitgenossen, die ihn unterstützt haben und die der Meinung waren, nun müsse die Wirtschaftsgeschichte neu geschrieben werden, keinen Vorwurf machen. Doch Schrempp vergriff sich nicht nur bei der Wahl seiner Partner, er hatte auch kein Konzept, was er denn aus seiner Welt AG nun eigentlich machen wollte. So wurde er schon bald zum Totengräber seiner eigenen Vision. Die Fallhöhe war beträchtlich. Der Niedergang des Unternehmens setzte sich fort. Mobilitätskonzern Als Dieter Zetsche (von 2006 bis 2019 Vorstandsvorsitzender der Daimler AG) die Verantwortung übernahm, war das Drama um die Welt AG noch nicht zu Ende gespielt, das Drehbuch für ein „Bad Ending“ aber schon geschrieben. Zetsche drehte die Uhr zurück, rettete das Unternehmen, begann damit, die Trümmer des geplanten Weltreichs aufzuräumen und stellte die Weichen auf Wachstum. Mit seinem „Feuern aus allen Rohren“ machte er aus Mercedes-Benz wieder den – gemessen an den verkauften Stückzahlen – größten Hersteller von Premiumautomobilen der Welt. Die Marktführerschaft bei hochwertigen Automobilen war ihm, dem „Car Guy“, wichtig – wichtig für das Image der Marke Mercedes-Benz, wichtig für die Reputation der Daimler AG und sicherlich auch wichtig für sein Standing im Unternehmen und in der Öffentlichkeit. Mit seinem Satz: „Wenn wir weiterhin nur das tun, was wir so gut gemacht haben, sind wir erledigt“, leitete er eine R 04. unternehmerische Entscheidungen sind niemals alternativlos und ... 05. ... meistens gibt es sogar mehrere Alternativen, die alle auf den Tisch müssen 06. formale Entscheidungswege können informell manipuliert und ausgehebelt werden

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