d Das Magazin für Führung, Personalentwicklung und E-Learning www.wuw-magazin.de wirtschaft weiterbildung Wolf Lotter_Publizist fordert mehr kritische Zweifler S. 12 Heide Kastner_Psychiaterin warnt vor zunehmender Dummheit S. 40 Ralf Hocke_Messemacher erfindet neue HR-Convention S. 50 Superpower Purpose? Warum Sinn-Debatten im Job ausgereizt sind S. 16 02_22 Mat.-Nr. 00107-5194
editorial wirtschaft + weiterbildung 02_2022 3 die Superhelden auf unserer Titelseite suchen nicht nach dem Sinn der Arbeit – sie verkörpern ihn: Sie setzen sich tagtäglich dafür ein, die Welt zu retten. Doch wer kann schon von sich behaupten, im Job an die Superkräfte dieser Comicfiguren heranzureichen? Klar, wir überzeichnen hier den Sinn der Arbeit mit unserem Bild. Doch genau diese Übertreibung ist es, die Kritiker und Kritikerinnen der Purpose-Debatte den Unternehmen vorwerfen – allen voran Ingo Hamm, Autor des Buchs „Sinnlos glücklich“. Der Wirtschaftspsychologe sieht im „Corporate Purpose“ gar einen Etikettenschwindel: Die Purpose-Claims auf den Unternehmenswebseiten dienten nicht dazu aufzuzeigen, wie Unternehmen die Welt gedenken zu retten. Vielmehr sei das echte Ziel, die Unternehmensattraktivität zu steigern und damit die raren Fachkräfte ins Unternehmen zu ziehen. Doch entscheidet sich ein Mensch tatsächlich für ein Unternehmen oder leisten Mitarbeitende noch mehr, wenn sie einem Purpose-Label folgen? Sie erahnen es: Hamm verneint diese Frage natürlich und er verneint auch insgesamt den Sinn der Sinn-Debatte. Trotzdem ist der Sinn bei der Arbeit ein Thema, das viele umtreibt. Allerdings ist es das subjektive Sinnempfinden das hier zählt. Jeder muss für sich selbst den Sinn seiner Tätigkeit definieren. Das hat dann meist viel mehr mit Selbstwirksamkeit als mit Welt retten zu tun. Nebenbei erwähnt: Im Editorial zu unserer Ausgabe mit dem Schwerpunkt „New Work“ habe ich – zugegebenerweise recht lapidar – bereits angedeutet, dass man den Menschen keinen Sinn bei der Arbeit vorschreiben kann. „Den können sie nur selbst für sich finden“, war meine These und es hat mich sehr gefreut, dazu positive Resonanz von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, zu erhalten. Mit unserer aktuellen Ausgabe zum Purpose im Job können wir an die vorangegangene New-Work-Debatte anknüpfen. Tun Sie dies auch gerne und schreiben uns Ihre Meinung zum Sinn und Unsinn der Arbeit. Liebe Leserinnen und Leser, Ich wünsche Ihnen eine bereichernde Lektüre! Kristina Enderle da Silva, Chefredakteurin
inhalt 02_2022 4 wirtschaft + weiterbildung 02_2022 06 blickfang aktuell 08 Nachrichten Neues aus der Weiterbildungsbranche: aktuelle Studien, Umfragen und Tipps menschen 12 „ Wir brauchen den kritischen Zweifel“ Wolf Lotter, Autor und Mitbegründer des Wirtschaftsmagazins „Brand eins“, ruft dazu auf, Leistung neu zu definieren. Statt die reine Quantität zu messen, sollte auch das Nachdenken und Ausprobieren zur Leistung zählen. titelthema 16 Superpower Purpose? Während vor allem Managementberater predigen, einen Corporate Purpose auszubilden und damit auf dem vom Fachkräftemangel geprägten Arbeitsmarkt zu überzeugen, mehren sich die Stimmen die in dieser Sinn-Debatte das Wichtigste vermissen: den Sinn. Wirtschaftspsychologe Ingo Hamm prangert in seinem neuen Buch sogar einen Etikettenschwindel an. Purpose. Wie sinnvoll ist es, den Mitarbeitenden zu versprechen, mit den Unternehmensprodukten die Welt zu retten? Wieviel Sinn steckt in der Debatte um den Corporate Purpose? Die kritischen Stimmen mehren sich. Diagnostik. Das ist vor dem Einsatz eines Persönlichkeitsfragebogens im Coaching oder Training zu beachten. 22 personal- und organisationsentwicklung 22 Gewollt ist nicht gleich gekonnt In Trainings und Coachings sind häufig Persönlichkeitsfragebogen für die Teilnehmenden im Einsatz. Allerdings werden häufig die Anforderungen bei der Auswahl eines Fragebogens und – noch mehr – bei der Interpretation der Ergebnisse missachtet. 28 Sand oder Öl fürs organisationale Getriebe Eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen ist eine passende Lernkultur im Unternehmen. Wo steht die Personalentwicklung bei der Gestaltung? Und wie kann sie die Entwicklung fördern? Antworten auf diese Fragen gibt die Studie „Next PE“. 32 Gesundheit ganzheitlich fördern „Krankheit vermeiden“ ist nicht mehr das vorrangige Ziel der betrieblichen Gesundheits- förderkonzepte. Vielmehr geht es darum, das Wohlbefinden, die Leistungskraft und die Lebensfreude der Mitarbeitenden zu fördern und zu bewahren. training und coaching 34 Nachhaltigkeitsziele im Managementkurs Die Business Schools nehmen verstärkt die UN-Nachhaltigkeitsziele in den Lehrinhalten ihrer Executive-Education-Programme auf. 38 „Ein neues Kompetenzfeld für Manager“ Knut Haanaes forscht zu Strategie, digitale Trans- formation und Nachhaltigkeit. Die Erkenntnisse vermittelt der Professor am International Institute for Management Development an Führungskräfte. 16
wirtschaft + weiterbildung 02_2022 5 Lernkultur. Das ist der aktuelle Stand der Personalentwicklung in Sachen lernförderliche Kultur. 40 „Dummheit wird immer und überall unterschätzt“ Die österreichische Psychiaterin Heidi Kastner erklärt, warum in unserer Gesellschaft gerade sehr viel Dummheit aufkommt und wie sie sich verbreitet. Sie warnt nachdrücklich, dass es sehr gefährlich sein könne, die Dummheit zu unterschätzen. 44 Die größten E-Learning-Player Bereits seit 2008 ermittelt das MMB-Institut die Top-Anbieter, die den größten E-Learning-Umsatz in Deutschland tätigen. Der Spitzenreiter im aktuellen Ranking ist der gleiche wie im Vorjahr. 46 Absage an staatliche Regulierungen In ihrem Koalitionsvertrag haben SPD, Grüne und FDP Vorhaben für die Weiterbildung definiert. Der Verband „Wuppertaler Kreis“, der rund 60 große Akademien für die betriebliche Weiterbildung vertritt, bewertet die Ziele jedoch zum Teil sehr kritisch. messen und kongresse 48 Online-Events sind kein Selbstläufer Beratungsunternehmen und Handelshäuser experimentieren derzeit mit vielen neuen digitalen Veranstaltungsformaten. Als Crux erweist sich dabei oft deren zielgerichtete Vermarktung. 50 Neue Präsenzveranstaltung für HR-Professionals Am 31. Mai und 1. Juni will die neue „Copetri Convention“ Vordenker und Vordenkerinnen aus den Bereichen Innovation, Transformation und People in Offenbach zusammenbringen. Akademien. Der Wuppertaler Kreis bewertet die Vorhaben der Regierung kritisch. Der Verband sieht ein Übermaß an staatlicher Regulierung. 28 46 52 fachliteratur 56 kolumne 58 zitate Rubriken 03 editorial 51 vorschau 51 impressum Es gibt noch viel zu entdecken… Bitte helfen Sie kranken Kindern mit Ihrer Spende für das neue Kinderzentrum Bethel. Online spenden unter: www.kinder-bethel.de 6036
blickfang 6 wirtschaft + weiterbildung 02_2022 WER Das Foto zeigt eine Teilnehmerin der diesjährigen Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas, USA. Sie nutzt die dort ausgestellte Technik, um virtuell eine Freundin zu treffen. WAS Die Owo-Weste, die die Frau trägt, macht das Geschehen im virtuellen Raum spürbar. Der Träger oder die Trägerin spüren den Einschlag von Pistolenkugeln, aber eben auch freundschaftliche Berührungen. UND SONST Das Foto wurde am Mittwoch, 5. Januar 2022, von Patrick T. Fallon für die Nachrichtenagentur AFP auf der CES 2022 aufgenommen. Weltweit wird das Foto von Getty Images vertrieben. See me. Touch me. Feel me. Das am häufigsten benutzte Schlagwort der Tech-Branche, die sich Anfang Januar in Las Vegas traf, heißt nicht mehr „Disruption“, sondern „Metaverse“. Dabei geht es um die nächste Generation einer virtuellen Realität, die im Internet neben der „wirklichen Wirklichkeit“ entstehen soll. Zum Beispiel werden Menschen bald in ihre virtuellen Meetings von zu Hause aus so intensiv und gefühlsecht „eintauchen“ können, dass sich die Sache wie eine persönliche Begegnung anfühlt. Die Vision hinter Metaverse ist gigantisch. Es gibt immerhin schon einzelne Neuheiten, die dafür sorgen, dass sich Menschen mit der Hilfe von neuen Augmented-Reality-Brillen und entsprechender Westen und Anzüge gerne in virtuellen Räumen aufhalten. Man kann nur hoffen, dass die Bandbreite ihrer Internetverbindung mithält. Foto: PATRICK T. FALLON / Kontributor / gettyimages.de
8 wirtschaft + weiterbildung 02_2022 BRÜCKENTAGE Urlaubsplanung für das Jahr 2022 mit etwas Glück optimieren Im Jahr 2022 gibt es für Angestellte nur wenige gute Gelegenheiten, sich mit wenigen Urlaubstagen viel Freizeit zu verschaffen. Der Tag der Arbeit am 1. Mai fällt leider auf ein Wochenende, aber der Vatertag am 26. Mai bringt mit drei Urlaubstagen vorher und einem danach neun freie Tage. Ein langes Wochenende verspricht auch der bundesweit geltende Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober, der auf einen Montag fällt. Allerheiligen am 1. November ist in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland ein Feiertag. 2022 fällt Allerheiligen auf einen Dienstag. Mit nur einem In Deutschland schreitet der demografische Wandel voran und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) liefert jetzt konkrete Zahlen zu dieser Entwicklung: Allein im Jahr 2022 werden in Deutschland über 300.000 Personen mehr in den Ruhestand gehen als in den Arbeitsmarkt eintreten. Wenn man den Zeitraum bis zum Jahr 2030 betrachtet, eraktuell INSTITUT DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT Bald fehlen fünf Millionen Fachkräfte Urlaubstag am Montag vor Allerheiligen und mit drei anschließenden Urlaubstagen kann man insgesamt neun Tage frei machen. Pech hat in diesem Jahr, der auf das Jahresende hofft: Heiligabend fällt auf einen Samstag. Der 1. Januar ist Sonntag. nötigen Größenordnung wohl nicht zu erreichen sei. „Fachkräftemangel darf nicht zur dauerhaften Wachstumsbremse in Deutschland werden“, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zur Fünf-Millionen-Lücke. „Wir müssen einen Aufbruch schaffen und viel mehr Weiterbildung jedes Einzelnen in Deutschland ermöglichen.“ Bis zu 500 Kinder (plus 400 Prozent im Vergleich zum Vorjahr) mussten nach Suizidversuchen zwischen März und Ende Mai 2021 bundesweit auf Intensivstationen behandelt werden. Das berichtete die Essener Uniklinik. Der Leiter der dortigen Kinderintensivstation, Professor Christoph Dohna-Schwake, erklärte gegenüber der Westfälischen Rundschau: Die mit dem Lockdown verbundene soziale Isolation habe vor allem Kinder belastet, die schon zuvor unter Depressionen oder Angststörungen gelitten hätten. Die dramatische Entwicklung, die sich aus Daten von 27 deutschen Kinderintensivstationen ergibt, hat Experten überrascht. CORONASTUDIE Suizid bei Kindern gibt sich eine Zahl von fünf Millionen Fachkräften, die auf dem Arbeitsmarkt fehlen werden, weil Hunderttausende mehr in den Ruhestand gehen, als Arbeitskräfte nachrücken. Während im Jahr 1964 in Deutschland 1,4 Millionen Menschen geboren wurden, waren es im Jahr 2009 lediglich rund 736.000 Menschen. Das bedeutet nach den Berechnungen des IW eine Differenz von rund 670.000 potenziellen Erwerbstätigen. Deutschland könnte dieser Entwicklung mit gesteuerter Zuwanderung entgegenwirken. Dass das in einem nennenswerten Umfang gelingt, bezweifelt das IW jedoch. Nötig sei eine „gewaltige“ Nettoeinwanderung gut ausgebildeter Arbeitnehmende, die in der
wirtschaft + weiterbildung 02_2022 9 Kurz und Knapp Coaching-Umfrage. Jörg Middendorf, Chef des BCO in Köln, übergibt die Durchführung der jährlichen „Coaching Umfrage Deutschland“ an das Artop-Institut an der Humboldt-Universität in Berlin, das unter der Leitung von Thomas Bachmann und Carmen Stephan ab 2022 die Umfrage weiterführen wird. Artop bietet seit 1995 Beratung, Forschung und Ausbildung in Sachen BusinessCoaching. Bestseller. Wie viele Bücher wurden 2021 in Deutschland verkauft? Rund 273 Millionen hat die Marktforschungsgesellschaft Media Control in Baden-Baden gezählt. Neu auf den Markt kamen im vergangenen Jahr 1.028.469 verschiedene Titel. Die Nummer 1 ist die deutsche Übersetzung des US-Romans „Der Gesang der Flusskrebse“ mit fast 700.000 Verkäufen. Bundesregierung. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) baut sein Ministerium um. Es gibt jetzt eine Abteilung „Weiterbildung“. Chefin dort wird Gunilla Fincke, bisher Referatsleiterin für Grundsatzfragen der Migrations- und Integrationspolitik. Die bisherige Abteilung „Digitalisierung und Arbeitswelt“ wird in „Denkfabrik Digitale Arbeitswelt“ umgetauft. Auch das noch. Das Nachrichtenmagazin „Focus“ Nr. 3 vom 15. Januar 2022 widmet der amerikanischen Aufräumtrainerin Marie Kondo einen vierseitigen, oberflächlichen Bericht. Kondo kann sich über den Erfolg ihrer zweiten Netflix-Serie zum Thema „Ordnung ist das halbe Leben“ freuen. Sie gibt Tipps, so viele Dinge wie möglich hochkant stapeln und versucht auch die Beziehungen ihrer Klienten in Ordnung zu bringen. Kurse zu künstlicher Intelligenz gefragt COURSERAS „LERNTRENDS 2021“ Coursera, eine der größten, internationalen Lernplattformen der Welt, analysierte die Nachfrage seiner deutschen User. Die Daten aus dem Jahr 2021 belegen, dass die fast 1,2 Millionen registrierten deutschen Lernenden (weltweit 87 Millionen Lernende) besonders häufig Kurse belegt haben, die sie beim Thema „Digitalisierung der Arbeitswelt“ voranbringen. Wie Sattelberger zum Tiktok-Star wurde SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Thomas Sattelberger, ehemaliger Personalchef der Telekom und derzeit einer der ältesten Abgeordneten im Bundestag (FDP), ist der erfolgreichste deutsche Politiker auf Tiktok, einem Videoportal für die Generation Z, zu der alle nach 1995 Geborenen gehören. Sattelberger hat 144.000 Abonnentinnen und Abonnenten und drei Millionen Likes. Viele Videos erreichen Aufrufe im sechsstelligen Bereich. Sattelberger greift recht ungeschickt Tanz- und Musiktrends auf und verkleidet sich aufwändig. Er berichtet aber auch seriös aus seinem Arbeitsalltag als Abgeordneter. Die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) vom 8. 1. 2022 hat jetzt das Geheimnis verraten, wem Sattelberger seinen Tiktok-Erfolg verdankt: Die Videos, die er selbst finanziert, werden von der (von einem 17-Jährigen gegründeten) Münchner Agentur „Project Z“ entwickelt und mit Smartphonekameras produziert. In der Regel trifft sich Sattelberger alle zehn Tage Thomas Sattelberger. Der Politiker kämpft bei Tiktok mit dem Laserschwert für Start-Ups. „Machine Learning“ von der Stanford University war im Jahr 2021 der meistbesuchte Kurs unter den bei Coursera registrierten deutschen Lernenden. Der Kurs ist sehr beliebt bei all denjenigen, die es mit einer Automatisierung ihrer Arbeit zu tun haben, bei der eine künstliche Intelligenz die Steuerung übernimmt. Sehr gefragt war auch der Kurs „AI‘s Neural mit Agenturleuten, um kontinuierlich neue Videos zu produzieren. Peinlich sei ihm keines seiner Videos, sagte Sattelberger der SZ. Das Portal Tiktok, das vom chinesischen Unternehmen Bytedance betrieben wird, hat europaweit 100 Millionen User. Networks and Deep Learning“. Aber auch Kurse, die Data- Science-Kenntnisse vermitteln, waren beliebt. Der Beruf des Data Scientist gilt als einer der begehrtesten High-Tech-Berufe Europas. Coursera registriert eine zunehmende Bedeutung von Zertifikaten, die eine schnelle und flexible Umschulung ermöglichen. Gemeint sind Kurse wie „Foundations of Project Management“ von Google. Darüber hinaus finden auch Kurse zunehmend Beachtung, die sich Phänomenen widmen wie zum Beispiel „ The Science of Wellbeing“ der Yale University oder „Bitcoin and Cryptocurrency Technologies“ der Princeton University. Foto: Pichler
aktuell 10 wirtschaft + weiterbildung 02_2022 Auch 2022 wird für viele HR-Abteilungen und Personalverantwortliche wieder herausfordernd. Sven Hennige, Senior Managing Director Central Europe bei Robert Half, einem Anbieter von Talentlösungen, skizziert die drei wichtigsten HR-Trends für das neue Jahr: Trend 1: Re-Boarding Es geht darum, Menschen nach der pandemiebedingten Kurzarbeit oder langen Homeoffice-Phasen wieder in die Arbeitsabläufe vor Ort zu integrieren. Im Fokus steht dabei besonders auch die soziale Komponente. Die individuellen Bedürfnisse haben sich in den vergangenen Monaten möglicherweise verändert. Eine mögliche ROBERT HALF HR-Trends 2022: Re-Boarding, KI und Diversität CAPGEMINI-STUDIE Führungskräfte nur unzureichend auf hybrides Arbeiten vorbereitet gut programmierte KI könnte auf einer passenden Datenbasis entscheiden, ob ein Bewerber anhand seiner fachlichen Skills geeignet ist. Trend 3: Konkrete Förderung von Diversität, Inklusion und Antirassismus Die aktuelle Arbeitsmarktstudie von Robert Half zeigt, dass knapp die Hälfte aller Firmen in Deutschland (47 Prozent) Schulungsmaßnahmen anbieten, die sich mit Vielfalt, Inklusion und Gerechtigkeit befassen. Und nahezu ein Viertel der Befragten bestätigt, dass sich durch die stärkere interne Förderung von Vielfalt und Chancengleichheit die Arbeitskultur verbessert habe. psychische Belastung durch die Pandemie und die Umgewöhnung mit Blick auf neue Arbeitsprozesse im Büro müssen berücksichtigt werden. Auch die Zusammenarbeit als Team beginnt oft von vorne. Trend 2: KI-gestütztes Recruiting Künftig wird die künstliche Intelligenz (KI) bei der Suche nach geeignetem Personal eine unterstützende Rolle spielen. Sie könnte beispielsweise Termine für Bewerbungsgespräche koordinieren und bereits formale Anforderungen in den Unterlagen prüfen und so den Kandidatenkreis festlegen. Inzwischen gibt es sogar spezielle Software, die Fragen für anschließende Bewerbungsgespräche entwickelt. Eine 69 Prozent der deutschen Führungskräfte sind der Meinung, dass ihr Unternehmen den Übergang zu Remote- und Hybridarbeitsplätzen reibungslos bewältigt hat. Dem stimmt jedoch nur die Hälfte (49 Prozent) der Mitarbeitenden zu. Das zeigt die aktuelle globale Studie „Relearning Leadership: Creating the Hybrid Workplace Leader“ des Capgemini Research Institute. Der hybride Arbeitsplatz stellt Unternehmen offenbar vor einzigartige Herausforderungen: Von Führungskräften wird erwartet, dass sie ihre Teams anleiten und inspirieren, indem sie emotional intelligent handeln und den Angestellten die erforderliche Autonomie gewähren. Allerdings gaben nur 37 Prozent der Mitarbeitenden in nicht leitenden Funktionen an, dass ihr Unternehmen Teams aktiv dabei unterstützt, eigene Entscheidungen zu treffen. Zudem fühlt sich weniger als die Hälfte (47 Prozent) im Verlauf der Pandemie von ihrem Unternehmen einbezogen und gehört. Tatsächlich hat die Pandemie die Notwendigkeit, das körperliche und mentale Wohlbefinden der Belegschaft ernst zu nehmen, noch stärker in den Fokus gerückt. Aber es gibt eine Wahrnehmungslücke zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften, was den effektiven Umgang mit den Themen Gesundheit und Wohlbefinden während der Coronakrise angeht. Die Studie zeigt, dass für die neue hybride Arbeitswelt auch neue Ansätze der empathischen und mitarbeiterorientierten Führung erforderlich sind. Vertrauen ist für den anstehenden Wandel von zentraler Bedeutung: Eine überwältigende Mehrheit (84 Prozent) der Befragten sieht die Fähigkeit, eine Vertrauenskultur zu schaffen, in der sich die Mitarbeitenden selbstbestimmt fühlen, als eine der wesentlichen Kompetenzen von Führungskräften an.
wirtschaft + weiterbildung 02_2022 11 „Für Unternehmen wird es zunehmend schwieriger, neue Talente zu finden und vorhandene Mitarbeitende zu halten“, prognostiziert Dr. Stefan Mauersberger, Partner bei Kincentric, einer Beratungsgesellschaft mit den Schwerpunkten Mitarbeiterbefragung, Führungskräfteentwicklung sowie Talent Advisory. Es werde in Zukunft darauf ankommen, den Mitarbeitenden größtmögliche Flexibilität hinsichtlich des Arbeitsortes einzuräumen. Führungskräfte müssten außerdem über das fachliche und soziale Rüstzeug verfügen, um die Rückkehr vom Homeoffice an den Arbeitsplatz kompetent zu begleiten, besonders wenn die Arbeit ab sofort IFM BONN So bewältigt der Mittelstand die Krise Wenn kleine Unternehmen eine Krise wie die Coronapandemie zu bewältigen haben, hilft eine gute Kapitalausstattung. „Gleichwohl hängt es aber auch sehr stark von der Person des Unternehmers ab, ob eine Krise überwunden wird. Dies gilt umso mehr, je kleiner das Unternehmen ist“, erklärte Dr. Annette Icks vom Institut für Mittelstandsforschung (www. ifm-bonn.org) bei der Vorstellung der Studie „Resilienz von Unternehmen“. Es habe sich als hilfreich erwiesen, wenn die Unternehmerinnen oder Unternehmer die neue, krisenhafte Situation schnell akzeptierten und lösungsorientiert darauf reagierten. Von Vorteil sei ein bereits vor der Krise vorhandener hoher Digitalisierungsgrad gewesen. Die Studie enthält anonymisierte Fallbeispiele und lobt ein Trainingsinstitut, das vor der Krise mit 40 Mitarbeitern rund 2,5 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftete. Hier sei es gelungen, das Geschäftsmodell dank rascher IT-Investitionen zu transformieren und mit Webinaren und Online-Coachings das nötige Geld zu verdienen. Dem Anstieg der Fluktuation vorbeugen KINCENTRIC-TRENDREPORT in einer hybriden Umgebung stattfinde. Noch nie sei es so wichtig gewesen, Mitarbeitenden zuzuhören und auf sie einzugehen. Das Zuhören sollte aber nicht nur dazu dienen, ihr Engagement zu messen – das Feedback der Mitarbeitenden müsse auch ein wichtiger Input für personelle und geschäftliche Entscheidungen sein. Fast die Hälfte der Beschäftigten ist sich laut Kincentric nicht über die Karrieremöglichkeiten in ihrem Unternehmen sicher. Führungskräfte müssten bereit sein, offen über Entwicklungsmöglichkeiten für jeden Mitarbeitenden zu sprechen. Eine starke Unternehmenskultur helfe, Mitarbeitende zu gewinnen und zu halten.
menschen 12 wirtschaft + weiterbildung 02_2022 INTERVIEW. Wir messen Leistung immer noch als Output, sagt der Autor und Mitbegründer des Wirtschaftsmagazins „Brand eins“ Wolf Lotter. Doch in der Wissensgesellschaft zähle die Qualität der Ergebnisse, nicht die Quantität. Wir müssten uns darüber verständigen, was Leistung sei in einer Welt, in der es aufs Nachdenken ankomme, nicht aufs schiere Tun. Herr Lotter, in Ihrem neuen Buch unternehmen Sie eine Neudefinition von Leistung und fordern „Strengt Euch an!“. Warum müssen wir jetzt wieder über Leistung sprechen? Wolf Lotter: Wir müssen genau jetzt über Leistung sprechen, weil die Ära der Leistung jetzt erst beginnt. Wir stehen am Beginn des Zeitalters der geistigen Arbeit, der Wissensarbeit. Das sind die meisten Menschen nicht gewöhnt, auch wenn sie eine akademische, fast intellektuelle Ausbildung haben. Leistung durch Nachdenken und nicht durch Routinearbeit ist unserer Kultur und unserem Gesellschaftsleben zutiefst fremd. Viele Menschen laufen mit, sind fleißig – das ist ja die wörtliche Übersetzung des lateinischen „industria“ ins Deutsche. Wir sind eine Fleißgesellschaft voller toller Menschen, die wahnsinnig angestrengt, fast schon mit ADHS-Symptomen, herumspringen. Aber wir haben nicht gelernt, mit Nachdenken, mit Konzentration auf neues Wissen hin etwas zu leisten und uns zu bemühen, die großen Probleme unserer Zeit zu lösen. Ich verstehe Sie so: Wir sind fixiert auf den Output und ignorieren den Outcome. Wieso gelingt die Neuorientierung nicht? Lotter: Das ist eine Kulturfrage. Wir schaffen den Wandel von der Quantitäts- zur Qualitätsgesellschaft nicht. Wir diskutieren diese Frage seit rund 60 Jahren, aber tun sehr wenig dafür. Der Grund dafür liegt darin, dass wir im Alltag sehr viele Technologien nutzen, die auf Quantität, auf Output ausgelegt sind. Die Konsumgesellschaft ist ja nicht umsonst der Begriff, der unsere „ Wir brauchen den kritischen Zweifel“ Wirklichkeit beschreibt. Wir konsumieren, wir wiederholen bei diesem Konsum, aber wir ändern kaum die Richtung – oder nur scheinbar. Wir konsumieren vielleicht mehr von anderem, aber wir investieren wenig Zeit und Mühe in die Auswahl dessen, was uns angeboten wird, in die Qualität. Für mich ist eine entscheidende Frage in der Diskussion über die Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, was es bedeutet, an alten Riten festhalten. Die ganze Organisationswelt ist immer noch fest im Griff dieser Idee, dass man nur etwas anfangen muss und dann läuft es. Und wenn man dann ordentlich mitmacht, ist alles gut. Dieser Glaube bestimmt unser Leben. Es geht dann eher um Begrifflichkeiten, zum Beispiel gilt der Verbrennungsmotor mittlerweile als schlecht, E-Mobilität dagegen als gut. Doch wenn wir genau hinsehen, ist der qualitative Unterschied fürs Klima marginal. Nur tun wir so, als ob wir etwas ganz Tolles geschaffen hätten, auf das wir unsere ganze Energie richten. Das ist absurd. Und ist immer noch dem alten Denken verhaftet, dass ein bisschen Umlackieren schon ausreichen würde. Wir unternehmen keine echte Transformation, sondern simulieren Veränderung. Ein Schlüsselbegriff bei Ihnen scheint mir „Besser machen“ zu sein. Eben nicht umlackieren, sondern anders machen. Und zwar aus einem inneren Antrieb heraus. Woraus entspringt denn dieses Bedürfnis, Dinge besser zu machen? Lotter: Das ist genauso wie bei Kaizen, um ehrlich zu sein. Wolf Lotter. „Die neue Arbeitswelt ist der Ort, wo die Selbstverpflichtung zur Leistung und die Pflicht zur Leistung, die sich aus dem Arbeitsvertrag ergibt, verschmelzen.“ Foto: Sarah Esther Paulus
wirtschaft + weiterbildung 02_2022 13 Wenn ich Menschen sage, sie sollten bei dem, was sie tagtäglich tun, darauf achten, was sie besser machen können – weil unvernünftig sei, was sie gerade tun –, dann animiere ich sie, genauer hinzusehen. Dieses Animieren kann mit harten Ansagen geschehen oder sanft, in jedem Fall aber kommen Lösungsalternativen zustande, wenn man Menschen zum Selbstdenken anregt. Das ist ein alter Hut, das ist nicht neu, sondern es ist eigentlich eine anthropologische Konstante, dass wir versuchen, das, was wir haben, stetig zu verbessern. Verbessern im Sinne von „in eine neue Qualität überführen“. Lösungsalternativen sind immer besser, weil sie sich genauer an das anpassen, was gerade ist. Ich sage nicht, dass anders besser ist in jedem Fall. Sondern ich sage, dass das Nachdenken darüber, ob das Andere besser ist, die bessere Idee ist. Nachdenken ist Arbeit. Aber wie misst man Denkarbeit? Lotter: Wir sind nach wie vor auf die Stückzahl fixiert, auf den Output, von dem Sie gesprochen haben. Egal, ob diese Stückzahl sinnvoll ist. Die Kennzahl Stückzahl kann völlig ins Leere gehen und nur Geld kosten, aber wir fragen nicht, was uns das Ganze eigentlich bringt. Wir reden gerne davon, dass wir uns mehr in Richtung Ergebnisorientierung entwickeln, aber wenn diese Ergebnisse auch nur in Zahlen und messbaren Fakten bestehen, haben wir nichts verändert. Dann bleibt es bei Output-Messung, die in die Irre führt. Dann zähle ich die schieren Kundenkontakte. Oder, bei Verlagen sehr beliebt, die Zahl der positiven oder negativen Leserbriefe. Das schließt aber alle aus, die sich nicht melden und vielleicht ganz zufrieden sind. Oder die sich nicht melden und völlig unzufrieden sind. Die Herausforderung liegt darin, völlig neue Dialogformen zu entwickeln, um in eine qualitative Diskussion mit der Leserschaft zu kommen. Dazu komme ich aber nur, wenn ich nachdenke, wenn ich kritisch zweifle, wie Bert Brecht es uns anempfohlen hat. Aber irgendwann müssen wir „die Dinge auf die Straße bringen“, wie es so schön heißt. Wenn ich fünf Tage die Woche nachdenke und nichts Praktisches zuwege bringe, hat das Unternehmen, das mich bezahlt, auch wenig von mir … Lotter: Interessant: Sie definieren „etwas Praktisches tun“ damit, dass man irgendeinen Handgriff gemacht hat. Es gibt das schöne Wort „begreifen“. Wenn ich geistig etwas erfasse, dann sage ich, dass ich es begreife. Das kommt in unserer Kultur daher, dass ich zum Beispiel diesen Stift hier ganz fest in der Hand halte. Weil ich mich ans Physische klammere. Was „ Wir unternehmen keine echte Transformation, sondern simulieren Veränderung.“ R
menschen 14 wirtschaft + weiterbildung 02_2022 mache ich aber in einer Welt, in der es um Innovationen geht, um persönliche Problemlösungen – wie es heute schon überall der Fall ist, weil nur so in einer saturierten Welt die Dinge am Laufen bleiben – was mache ich also in dieser Welt, wenn die Dinge nicht begriffen sind? Es geht um das Denken und nicht darum, dass ein Mensch fünf Tage in der Woche je acht Stunden im Büro an seinem Schreibtisch sitzt und dort brav seine Formulare ausfüllt. Und dann auch noch alle 15 Minuten gemessen wird, wie viele Formulare der Mensch ausgefüllt hat. Das neue „auf die Straße bringen“ ist vielmehr die Lösungskapazität, die im Denken liegt. Damit aber verändert sich alles. Die ganzen gewohnten Gehhilfen wie festgelegte Arbeitszeiten, Präsenz im Büro, Arbeitszeiterfassung helfen in einer Welt, in der es um Lösungsalternativen geht, nicht weiter. Die entscheidende Frage ist die nach den Resultaten. Und hier wird es interessant, denn dann kommt die Frage auf, wie wirksam etwas ist. Wirksamkeit heißt hier: Ich überlege, wohin ich will, und frage, wer mich wie dabei unterstützt, dorthin zu gelangen – für die Kunden, fürs Produkt, für die Dienstleistung. Sie schreiben von der Selbstverpflichtung des einzelnen Menschen, sich anzustrengen. Aber gibt es weiterhin auch exogene Pflicht zur Leistung? Gilt das Tauschgeschäft Arbeit gegen Geld weiterhin? Lotter: Das hängt davon ab, wie selbstbestimmt Sie heute bereits sind in dem, was Sie tun. Wurden Sie eingestellt, um das zu tun, was Ihnen ein anderer bis ins Detail vorschreibt (alte Arbeit) oder sind Sie verantwortlich für die Lösung eines bestimmten Problemfeldes (neue Arbeit)? Diese neue Arbeitswelt ist der Ort, wo die eigenverantwortliche Selbstverpflichtung zur Leistung und die Pflicht zur Leistung, die sich aus dem Arbeitsvertrag ergibt, verschmelzen. Es geht dabei nicht um entweder Selbstverwirklichung oder Pflichterfüllung. Selbstverwirklichung bedeutet ja nicht, dass ich nur etwas für mich selbst tue – das ist eines der größten Missverständnisse überhaupt. Selbstverwirklichung bedeutet im Gegenteil, dass ich das, was ich am besten kann, so tue, dass es auch anderen nützt. So kommen diese scheinbar getrennten Welten wieder zusammen, wenn viel Können, Selbstbestimmung und Selbststeuerung auf Anforderungen treffen, die andere an mich stellen. Das beantwortet die Frage nach dem Purpose … Lotter: Die Purpose-Debatte ist so, wie sie in Deutschland geführt wird, lächerlich. Wenn ich nicht weiß, warum ich bei A oder B oder C arbeite und das tue, was ich tue, aber erwarte, dass in einem gemeinschaftlichen Prozess Sinn und Zweck nachgeliefert werden, damit mein Sinn-Defizit kompensiert wird, habe ich ein echtes Problem. Menschen, die das von Organisationen erwarten, rufe ich zu „Reißt Euch zusammen!“. Selbstständigkeit und selbstbestimmte Arbeit – das Ziel von New Work – sind kein Wohlfühlprogramm, sondern bedeuten, dass jeder und jede sich extrem anstrengen muss, die eigene Kontur zu schärfen, klarzumachen, was man kann, eben dies anderen anzubieten und diese anderen auch glücklich zu machen. Damit man selbst glücklich ist. Das beantwortet die Frage nach Sinn und Zweck des eigenen Tuns. Dieses Warten darauf, dass andere einem die Frage nach dem Warum und Wozu beantworten, ist schlimmstes Konsumverhalten. Dabei sind viele dieser sinnsuchenden Menschen Kritiker der Konsumgesellschaft, gleichzeitig sind sie die heftigsten Vertreter der Konsumgesellschaft, die auch noch Sinn und Zweck konsumieren möchten. Absurd. Ich lese Ihr Buch als einen Appell an Selbstverantwortung und Selbstbestimmung, daran, einen Unterschied zu machen. Ist Leistung, so verstanden, Teil dessen, was menschliche Würde ausmacht? Lotter: Auf jeden Fall. Wir haben das nur vergessen. Vor 150 Jahren hätte das niemand bezweifelt, außer vielleicht im Hochadel. Die Arbeiterbewegung war geradezu getragen von der Vision, dass Arbeiter mithilfe ihrer Arbeit menschliche Würde erringen. Dass sie dank ihrer Leistung, dank ihrer Bildungsanstrengungen aufsteigen können. Dass sie ein Recht auf anerkannte Leistung haben. Das ist sogar die zentrale Vision aller Emanzipationsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts und auch noch des 20. Jahrhunderts. Und kaum sind diese Forderungen für viele erfüllt, ist es plötzlich in Vergessenheit geraten und wir reden über absurde Dinge wie Purpose. Natürlich geht es darum zu sagen „Ich kann etwas. Ich bin jemand.“ Menschen definieren sich auch über ihre Tätigkeit. Die entscheidende Frage ist: Ist das, was ein Mensch tut, etwas, worauf er – und jetzt kommt ein ganz wichtiges Wort – stolz sein kann. Denn nur dann ist er auch selbstbewusst und selbstbestimmt. Alles andere ist nur geliehen. Interview: Christoph Pause R „ Die ganzen gewohnten Gehhilfen, wie festgelegte Arbeitszeiten, Präsenz im Büro, Arbeitszeit- erfassung, helfen in einer Welt, in der es um Lösungsalternativen geht, nicht weiter.“ Wolf Lotter Veröffentlichung. Das Interview ist zunächst auf newmanagement.haufe.de erschienen. Chefredakteur Christoph Pause (Bild) führte das Gespräch und rezensierte das aktuelle Buch von Wolf Lotter (Kasten).
wirtschaft + weiterbildung 02_2022 15 „Zu sich selbst finden und weitermachen“ Seit wir Menschen das Paradies verlassen mussten, gilt, dass wir unser Brot im Schweiße unseres Angesichts essen müssen. „Per aspera ad astra“ („Ohne Fleiß kein Preis“) – solche Volkswahrheiten sprechen dafür, dass Anstrengung, Mühsal und Plackerei zu unserem Leben gehören. Die (protestantische) Arbeitsethik hat das Ganze philosophisch untermauert. Kurz: Dass von nichts nichts kommt, ist den meisten von uns sehr bewusst. Und mitten hinein in dieses allgemeine Bewusstsein platziert Wolf Lotter sein Buch mit der Aufforderung „Strengt euch an!“ Er will nicht weniger als uns erklären, „warum sich Leistung wieder lohnen muss“. Das klingt ein wenig nach der geistig-moralischen Wende, die Helmut Kohl vor 40 Jahren ausgerufen – und relativ schnell wieder einkassiert – hat. Liegt da also ein Anachronismus in den Bücherauslagen, der uns Altbekanntes neu erzählt? Die Transformation ist allumfassend Wer Lotter als scharfzüngigen Kolumnisten und Vordenker von „Brand eins“ kennt, ahnt: Das Buch ist alles andere als ein fader Aufguss des liberalen Anstrengungssermons. Es geht ihm darum, Arbeit und Leistung neu zu denken. Denn, so lautet der Grundbass des Essays, wir leben in einer Umbruchzeit, deren Dimension uns noch nicht völlig klar ist. Digitalisierung, Automatisierung, Globalisierung sind Schlagwörter, die gern und oft genutzt werden, um die aktuelle Lage zu beschreiben, doch wir zögen daraus nicht die richtigen Konsequenzen, so Lotter. Wir kratzten bislang bloß an der Oberfläche. In Tat und Wahrheit stellen uns die genannten Entwicklungen vor eine große Herausforderung. Wir müssen neue Kriterien und Kategorien entwickeln, mit denen wir Leistung definieren und Arbeit beschreiben. Bis vor Kurzem war das alles noch relativ einfach: Unternehmen haben Menschen vertraglich dazu verpflichtet, klar umrissene Aufgaben zu erledigen. Je schneller und fehlerloser sie diese Aufgaben bewältigten, desto leistungsstärker waren die Menschen. Das sei das Arbeitsverständnis und der Arbeitsethos der Industriegesellschaft, schreibt Lotter. Allein: Die Industriegesellschaft ist am Ende. „Wir leben im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Dieser Vorgang wird Transformation genannt“, sagt Lotter. Für die große Mehrheit zumindest der westlichen Welt gehöre Plackerei im Sinne harter körperlicher Arbeit der Vergangenheit an. Vieles ist erreicht, Maschinen nehmen uns Arbeit ab, wir sind – verglichen mit allen Rezension. Was heißt Arbeit in einer Welt, in der es vor allem darauf ankommt, Probleme zu erkennen und auf bislang unbekannte Weise zu lösen? Wie definieren wir Leistung, wenn Routinen nicht weiterhelfen? Diesen Fragen geht Wolf Lotter in seinem Essay nach. vorangegangenen Generationen – sehr wohlhabend. Die Herausforderungen heute und vor allem in der Zukunft liegen woanders. Wir müssen Probleme globalen Ausmaßes lösen, allem voran den Klimawandel mit seinen vielfältigen Folgen und Ausprägungen. Wir brauchen ein neues Leistungsparadigma Dabei helfen aber keine Routinen. Etablierte Prozesse effizient nutzen und definierte Handgriffe immer schneller ausführen, um möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu produzieren: Das war das Leistungsparadigma der Industriegesellschaft. In der Wissensgesellschaft aber gehe es darum, Probleme zu lösen, von denen wir die meisten heute noch gar nicht kennen. Denken, mit anderen diskutieren, Dinge ausprobieren, bewerten und verwerfen, nur um sie noch einmal ganz anders anzugehen – das mache die Arbeit von morgen aus. Mit dem Leistungsparadigma der alten Welt können wir diese neue Arbeit jedoch weder steuern noch bewerten, davon ist der Autor überzeugt. Wir brauchten ein neues Paradigma, schreibt Lotter. Eine Definition von Arbeit und Leistung, die weniger den Output und mehr das qualitative Ergebnis bewertet. Die weniger Aktionismus und mehr Vernetzung und Zusammenarbeit honoriert. Die Menschen Zeit gibt, zu lernen und ihnen ermöglicht, das Beste aus sich herauszuholen. Die bereit ist, Menschen denken und machen zu lassen, jenseits von Kernarbeitszeit und Zeiterfassung. Das alles komme nicht von allein, es ist harte Arbeit. Die wir aber leisten müssten, wenn wir die Herausforderungen der Zukunft meistern möchten. Jeder und jede von uns ist aufgerufen, diese Arbeit zu leisten – sich eben anzustrengen. Wolf Lotter. Strengt euch an! Warum sich Leistung wieder lohnen muss, Ecowin, 2021, 126 Seiten, 18 Euro (als E-Book 13,99 Euro)
16 wirtschaft + weiterbildung 02_2022 SINNSUCHE. Unternehmen, die vorgeben, mit ihren Produkten die Welt ein Stück besser zu machen, wollen in der Regel nur ihre Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt erhöhen. Das behauptet der Wirtschaftspsychologe Ingo Hamm in seinem gerade erschienenen Buch „Sinnlos glücklich“. Einiges deutet darauf hin, dass der Corporate Purpose ein Etikettenschwindel ist. Superpower Purpose? titelthema Foto: yogysic / gettyimages.de BEISPIELE ... ... für Corporate Purpose:
wirtschaft + weiterbildung 02_2022 17 R 01. Wir verbinden die Länder Europas miteinander und Europa mit der Welt (Lufthansa) 02. To help the world run better and improve people‘s lives (SAP) 03. We create chemistry for a sustainable future (BASF)
titelthema 18 wirtschaft + weiterbildung 02_2022 In unsicheren Zeiten wollen viele Unternehmen zeigen, dass sie Orientierung geben können. Dazu schreiben Sie sich einen Purpose, einen höheren Zweck ihrer Existenz, auf weithin sichtbare Fahnen und hoffen auf eine positive Resonanz. Dr. Pero Micic, ein Experte für Zukunftsmärkte und Zukunftsstrategie und Chef der Future Management Group AG in Eltville, sieht das recht nüchtern: „Ich glaube, dass der Begriff Mission vielen Menschen einfach zu langweilig geworden ist, oder zu altbacken, und sie deshalb jetzt auf Purpose aufspringen“. Vor allem Berater hätten die Purpose-Entwicklung als Geschäftsfeld erkannt. Laut Micic sollte sich niemand etwas vormachen lassen: „Purpose heißt Zweck und den Zweck zu bestimmen, war schon immer die Sache einer Mission.“ Purpose oder Mission – lohnt diese Unterscheidung? Micic klärt auf: In einer gut formulierten Mission gibt es fünf Elemente, die man braucht, um die konstante Aufgabe eines Unternehmens zu beschreiben: 1. Da ist zuerst der Antrieb, das berühmte „Why“. Hier geht es um die Herkunft der Energie, mit der ein Unternehmen betrieben wird. Steve Jobs war der Überzeugung, dass Computer unbedingt anders (nämlich sehr einfach) zu bedienen sein müssen. 2. In einer Mission geht es auch um die Zielgruppe. Für wen setzt ein Unternehmen seine Energie und Leidenschaft ein? 3. Eine Mission muss unbedingt ein klares Wirkungsversprechen enthalten. Was bewirkt man für seine Kunden? Wofür bezahlen die Kunden wirklich? Menschen zahlen zum Beispiel für Musikgenuss – heute per Streaming-Abo, früher per CD. 4. Das vierte Element einer Mission ist das Lösungsversprechen des betreffenden Unternehmens. Das ist die besondere Weise, auf die die versprochenen Wirkungen erzielt werden. 5. Außerdem sollte in einer Mission der gesellschaftliche Beitrag, den ein Unternehmen leistet, erwähnt werden. Wie macht das Unternehmen die Welt besser? Dieser gesellschaftliche Beitrag ist der Purpose! Die Firma „SpaceX“ hat als Purpose ihre Anstrengungen zu bieten, es den Menschen zu ermöglichen, auf anderen Planeten Fuß zu fassen, wenn die Erde unbewohnbar geworden sein sollte. Der Mähdrescherhersteller Claas trägt laut Purpose dazu bei, dass Landwirte auch bei wachsender Weltbevölkerung genug Nahrung produzieren können. Micic selbst beschreibt einen Purpose so: Ich helfe Führungskräften, zukunftsintelligentere Entscheidungen zu treffen. Vom profanen Zweck zum „edlen Sinn“ Andere Berater wie zum Beispiel die Avantgarde Experts GmbH in München sehen den Corporate Purpose als ein ganz eigenständiges Konstrukt, als den exklusiven Daseinssinn, der weit über die reine Gewinnorientierung hinausgeht. Der Corporate Purpose bildet die Identität eines Unternehmens. Die Beraterin Lisa Earle McLeod hat, um das Besondere zu betonen, sogar den Begriff des „Noble Purpose“ erfunden. Auch in schlechten Zeiten muss man am „edlen Sinn“ festhalten, denn nur so kann eine Gesellschaft überleben. Ihr entsprechendes Buch aus dem Jahr 2016 trug den Titel „Leading with Noble Purpose: How to Create a Tribe of True Believers“. Es scheint weniger wichtig, wer ein Unternehmen ist und wie es wirtschaftlich dasteht. Es kommt vielmehr darauf an, dass es „die Welt zum Positiven verändern kann.“ Der Purpose existiert – man muss ihn nur finden Wie formuliert man nun einen Purpose, der das Wohl aller Stakeholder im Blick hat: die Mitarbeitenden, die Kunden, die Lieferanten, die Geldgeber und die Gesellschaft? Robert E. Quinn, ein Professor an der Ross School of Business der Universität von Michigan, erklärte im „Harvard Business Review“ (7/8-2018), dass ein Purpose niemals von einer Arbeitsgruppe erfunden werden könne. „Er existiert bereits in jedem Unternehmen“, so Quinn. Man könne ihn nur finden, wenn man sich auf eine „Listening tour“ begebe und sich in persönlichen, empathischen Gesprächen mit Vertretern und Vertreterinnen der Belegschaft unterhalte. Dabei sollten Dinge angesprochen werden wie: • Welche Probleme lösen wir für unsere Kunden? • Welche Kompetenzen nutzen wir dazu? • Nach welchen Werten handeln wir? • Welche Probleme lösen wir für die Gesellschaft? • Welche Existenzberechtigung hat unser Unternehmen deshalb in den Augen der Öffentlichkeit? Quinns Artikel trug den verräterischen Untertitel „How to turn Purpose into Performance“, der darauf hindeutete, dass Purpose nicht nur die Welt zu einem R 04. To make the world a brighter place (Covestro) 05. First move the world (Mercedes-Benz Cars) 06. We make real what matters (Siemens)
wirtschaft + weiterbildung 02_2022 19 besseren Ort machen, sondern auch Dank langfristiger Motivation zu einer Leistungssteigerung der Belegschaft führen soll. Und aktuell entsteht zusätzlich auch noch der Verdacht, dass sich Unternehmen mit Purpose einen Vorsprung erhoffen, die besten Hochschulabsolventen oder sonstige Jobsuchende für sich begeistern zu können. Das zumindest geht aus einer Studie aus dem Jahr 2021 hervor, die die Personalberatung Kienbaum in Köln durchgeführt hat. Die Auswertung von 1.300 Antworten ergab unter anderem, dass 33 Prozent der Angestellten in purposegetriebenen Organisationen ein durchschnittlich um 33 Prozent höheres Engagement an den Tag legen. Außerdem haben es PurposeUnternehmen laut Kienbaum sehr viel leichter, junge Talente zu gewinnen und auch zu halten. Auf das subjektive Sinnempfinden kommt es an Den Eindruck, dass der Purpose-Claim die Welt zu retten, nicht die Welt rettet, sondern die Attraktivität von Unternehmen gegenüber jungen Bewerbern und Bewerberinnen steigern soll – diesen Eindruck hat Ingo Hamm, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt, schon seit einiger Zeit. Er hat gerade ein Buch mit dem Titel „Sinnlos glücklich – Wie man auch ohne Purpose Erfüllung bei der Arbeit findet“ geschrieben und ein wichtiger Teil des sehr lebensnahen Buchs dreht sich darum, die „Jugend“ vor den Purpose-Claims zu warnen. Dazu ist ihm ein entlarvendes pose ist ausgemachter Etikettenschwindel“) und bewundernswert mutig gegen eine Managementmode, die noch nicht ihren Zenit überschritten hat und vom Mainstream aggressiv verteidigt werden wird. Natürlich weiß Hamm, dass es auch gesellschaftlich sinnvolle Jobs gibt. Doch aus der Existenz solcher Jobs etwas abzuleiten, heiße, die Ausnahme zur Regel zu erheben. „Sinn macht im Job keinen Sinn. Sinn im Job ist keine sinnvolle Sinnerfüllung, sondern lediglich eine weitere quiekende Publicity-Sau, die grunzend durchs New Work-Dorf getrieben wird“, ärgert sich Hamm im Vorwort zu seinem Buch „Sinnlos glücklich“. Im Idealfall spürt man „Selbstwirksamkeit“ Hamm bezieht sich auf Professor Tatjana Schnell, Universität Innsbruck, und schlägt vier Kriterien vor, anhand derer eine berufliche Tätigkeit als sinnvoll gelten kann: 1. Die Arbeit hat einen Nutzen für andere. 2. Die eigenen Fähigkeiten und Lebensziele passen zur Arbeit. 3. Man kann hinter den Werten des Arbeitgebers stehen. 4. Die Arbeit bietet die Zugehörigkeit zu einem Team. Alle diese vier Kriterien müssen gegeben sein, damit ein Job sinnvoll ist. Hamms frohe Botschaft lautet in diesem Zusammenhang, dass fast jeder Job im Prinzip alle vier Voraussetzungen erfüllen kann. Hamm: „Wir müssen nicht alle bei Greenpeace oder der Uno arbeiten und die Welt retten, um Sinn und Erfüllung bei der ArBeispiel eingefallen: Man stelle sich vor, man arbeite bei einer sehr angesehenen Hilfsorganisation, die die Meere von Plastikmüll säubert. Man stelle sich außerdem vor, jeden Tag sammle man entlang einer Küste von einem kleinen Boot aus Plastikteile mit der Hand ein. Die Art und die Anzahl der Handgriffe, die für ein Plastikteil erforderlich sind, werden vorgeschrieben und von einem Supervisor überwacht, der jeden anmeckert, der sich ungeschickt anstellt oder zu langsam das Plastikteil von der Wasseroberfläche fischt. Hamm ist sich sicher, dass fast jeder Plastiksammler sofort kündigen würde, obwohl er etwas sehr Sinnvolles für die Welt tut. Einhundert Prozent Purpose ist unwichtig, wenn ihm null Prozent Selbstverwirklichung gegenübersteht. Kein Mensch will um jeden Preis bei Greenpeace & Co. arbeiten, wenn die Tätigkeit an sich unzumutbar ist. Durch seine Forschungen und sein Gruppenexperiment hat Hamm herausgefunden, dass die Attraktivität von Jobs damit zusammenhängt, inwiefern die Probanden das Gefühl haben, mit ihrer Tätigkeit etwas bewirken zu können, aber nicht im Sinne von „die Welt retten“, sondern ganz konkret für sich selbst. Hamm: „Es ist die Selbstwirksamkeit, die wahrgenommene Effektivität der eigenen Tätigkeit, die ganz zentral die Attraktivität von Stellen ausmacht. Jobs sind attraktiv, nicht der Purpose.“ Ein Mensch entscheide sich für einen Job, nicht für einen Arbeitgeber oder einen gesellschaftlichen Mehrwert. Der Autor Ingo Hamm kämpft mit seinem Buch ausgesprochen provokativ („Pur- R Ingo Hamm. Der Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt schreibt ausgesprochen provokativ. Buchtipp. Ingo Hamm: „Sinnlos glücklich“, Franz Vahlen Verlag, München 2022, 259 Seiten, 26,90 Euro Foto: Julian Beekmann
titelthema 20 wirtschaft + weiterbildung 02_2022 beit finden. Es reicht, wenn wir einen Job wählen und behalten, der diese vier Voraussetzungen erfüllt.“ Einen sinnvollen Job kann zum Beispiel auch ein AmazonLagerarbeiter haben: 1. Es gibt einen Nutzen für andere. Der Lagerarbeiter sorgt dafür, dass viele Menschen rasch bekommen, was sie sich wünschen und was sie vielleicht dringend brauchen. 2. Der Job passt zu den eigenen Fähigkeiten, weil Amazon wohl keine unfähigen oder kranken Arbeiter einstellt. 3. Der Lagerarbeiter kann hinter den Werten der Firma stehen – zumindest, wenn er mit Arbeit unter Zeitdruck umgehen kann. Und vielleicht ist Amazon-Gründer Jeff Bezos ein echtes Vorbild für ihn. 4. Es ergibt sich beim Zusamenstellen der Pakete quasi automatisch eine Zugehörigkeit zu einem Team. Selbst ein Job bei Amazon kann also sinnvoll sein. Aber natürlich gibt es noch bessere Jobs – nämlich solche, die nicht nur sinnvoll, sondern sinnstiftend sind. Das sind Arbeitsplätze, bei denen die Menschen sich selbst verwirklichen können, weil sie die nötigen Spielräume zugestanden bekommen. Der Existenzialismus kann ein Wegweiser sein Aber selbst für eine Sinnstiftung ist laut Hamm ein Purpose nicht nötig. Man müsse für einen sinnstiftenden Job nicht die Welt retten. Wer sich in der Arbeit selbst verwirklichen kann, erfährt bereits Sinn. „Ich bin regelmäßig erstaunt, wie viele Manager, Gurus und Politiker vom Sinn der Arbeit sprechen, ohne den Existenzialisten Albert Camus gelesen zu haben. Dabei hat sich dieser weitaus mehr und gründlichere Gedanken zum Sinn des Lebens gemacht als jeder sogenannte „Intellektuelle des InternetZeitalters“, behauptet Hamm, der den Begriff „Selbstwirksamkeit“ in einem direkten Zusammenhang mit der Philosophie des Existenzialismus stellt: Die Welt an sich ist sinnfrei und der Sinn, den ein Mensch erfahren kann, steht in direktem Zusammenhang mit seinem Tun: „Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht.“ Der Sinn liegt im Tun. Sinn kann man nicht haben, man kann ihn nur geben und das auch nur dem eigenen Leben. In der griechischen Philosophie gibt es die Figur des Sisyphos, der von den Göttern dazu verurteilt wurde, einen Felsen einen Berg hochzurollen. Kaum ist der Felsbrocken oben, fällt er runter ins Tal und Sisyphos muss von vorne anfangen. „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen Menschen vorstellen“, schreibt Camus. „Sein Schicksal gehört ihm.“ Der antike Held kann der Tätigkeit, zu der er verdammt wurde, einen Sinn geben: Das eigene Joch wird bewusst, freiwillig und mit Stolz getragen. Das eigene Leben trotz allen Lasten zu bejahen, das bedeutet Selbstverwirklichung. Purpose-Unternehmen verlangen Begeisterung Während Ingo Hamm das Thema „Purpose Driven Organisation“ aus der Sicht der Mitarbeitenden beleuchtet, betrachten der Organisationssoziologe Stefan Kühl (Interview auf der gegenüberliegenden Seite) und der DBVC-Senior Coach Klaus Eidenschink (in einem Artikel auf LinkedIn am 11. Mai 2019) das Thema aus einem organisationalen Blickwinkel. Eidenschink kritisiert am Purpose-Ansatz, dass er Unternehmen die Möglichkeit bietet, ihre Mitarbeitenden subtil auszubeuten. Unternehmen behaupten, in irgendeiner Form die Welt zu verbessern und geben den Mitarbeitenden das motivationssteigernde Gefühl, sie seien Teil eines sinnvollen Projekts. Dabei geht es unter anderem um recht naive Dinge wie zum Beispiel: • die Identifikation mit einer durch und durch guten Sache • die Idee, dass wirklich alle Beteiligten etwas zu einem Ganzen beitragen können • die Vorstellung, dass Konflikte sich bei genügend Einsatz immer in einem Konsens auflösen • die Annahme, dass man Ziele verfolgen könne, ohne jemanden zu benachteiligen, • das Konzept, dass es eine einzige Wahrheit gibt und es möglich ist, diese eine Wahrheit so zu gestalten, dass die Vielzahl der Stakeholder- und Shareholderinteressen unter den Hut dieser Wahrheit zu bringen sind. Eidenschink weist unter anderem darauf hin, dass es in strenggläubigen PurposeUnternehmen oft nicht mehr ausreiche, einfach seine Arbeit abzuliefern, man müsse auch noch Begeisterung zeigen. „Die Gemeinschaft der Gläubigen bildet dann auch meist entsprechende Rituale, Erkennungsmerkmale und Begriffe aus. Wie bei jedem sich auf diese Art bildenden sozialen System, werden zum Beispiel Feindbilder und ein Missionszwang zu prägenden Merkmalen.“ Was aber am schlimmsten sei, sei die Tatsache, dass die Überidentifikation mit dem Purpose zu einem Verlust von Alternativen in einer Organisation führe. Da die Andersgläubigen das Unternehmen verlassen, fehlen letztlich die kritischen Geister, die vor Fehlentwicklungen warnen könnten. Martin Pichler R Foto: matiasdelcarmine / AdobeStock Sisyphos. Sinn entsteht für Existenzialisten durch Tun: Das „eigene Joch“ wird bewusst angenommen.
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