R wirtschaft + weiterbildung 06_2022 29 Die Geburtsstunde der Wertetheorie kann auf die Zeit von 1874 bis 1879 datiert werden. Auch der Name ihres Begründers steht fest: Es war Hermann Lotze mit seinem „System der Philosophie“. Ihm folgte 1884 Friedrich Nietzsches Titel „Die Umwertung der Werte“, danach die Arbeiten von Heinrich John Rickert, Max Weber, Helmut Klages und viele mehr. Der weltbekannte Natur- und Sozialwissenschaftler Herrmann Haken hat die wohl wirkungsmächtigste Selbstorganisationstheorie entwickelt. Danach können auch Unternehmen als Systeme aufgefasst werden, die aus sehr vielen Untersystemen – Mitarbeitenden, Teams oder Abteilungen – bestehen, die selbstorganisiert zusammenwirken. Werte bilden dafür die notwendige Voraussetzung. Werte sind als Kerne von Kompetenzen Ordner selbstorganisierten Handelns. Werte und Kompetenzen bilden damit zwei Seiten einer Medaille: Werte prägen die Haltung der Handelnden: Erst wenn Werte in den Köpfen und Herzen von Führungskräften und Mitarbeitenden verankert sind, erlangen sie handlungsleitende Funktion. Aus den Werten ergeben sich die Handlungsideale, die Vorstellungen der Mitarbeitenden darüber, wie sie handeln möchten. Diese bestimmen die Antriebe und die Orientierung des selbstorganisierten Handelns. Kompetenzen bestimmen die Handlungsfähigkeit der Handelnden: Kompetenzen sind nach Erpenbeck und Heyse die Fähigkeit, Herausforderungen in Theorie und Praxis kreativ und selbstorganisiert lösen zu können. Es ist nicht möglich, von Werten direkt auf Kompetenzen zu schließen oder aus Kompetenzen konkrete Rückschlüsse auf die Werte eines Menschen zu ziehen. Es ist jedoch sehr hilfreich für die gezielte Entwicklung von Mitarbeitenden, transparent zu machen, was die Mitarbeitenden antreibt und woran sich ihr selbstorganisiertes Handeln orientiert. Erst aus dieser ganzheitlichen Betrachtung ergibt sich ein schlüssiges Bild darüber, wie Mitarbeitende fühlen, denken und handeln. Werte- und Kompetenzerfassungen setzen direkt an den angestrebten Ausprägungen der Haltung und der Handlungsfähigkeit an, die erhoben und zeitnah gezielt entwickelt werden können. In zahlreichen Unternehmen werden objektive, reliable und valide Persönlichkeitstests eingesetzt und zu einem Maßstab von Personalauswahl und -entwicklung gemacht. Dagegen gibt es ernsthafte Einwände. Eine ganze Reihe der Persönlichkeitstests ist ziemlich umstritten. Auf amüsante Weise hat Fritz B. Simon, der bedeutende Psychiater und Psychoanalytiker, gezeigt, dass er, gemessen an den damals bekanntesten Tests, in ebenso viele, einander teilweise entgegengesetzte, Persönlichkeiten zerfallen würde. Der Glaube, durch Persönlichkeitstests wie auch Intelligenztests vernunftige Vorhersagen uber die Haltung und das Potenzial an Handlungs- und Arbeitsfähigkeit der Mitarbeitenden zu treffen, wurde bereits fruhzeitig widerlegt. Beispielsweise besitzt ein extrovertierter Mensch eine wichtige Persönlichkeitseigenschaft, die Verkaufsprofis kennzeichnet. Es ist jedoch völlig offen, ob er tatsächlich die Haltung und Handlungsfähigkeit besitzt, die für den Verkaufserfolg notwendig sind. Hinzu kommt, dass Persönlichkeitseigenschaften, wenn überhaupt, nur sehr langfristig verändert werden können. Warum sind Werte wichtig? Werte ermöglichen das selbstorganisierte, kompetente Handeln der Mitarbeitenden und Teams, auch wenn sie nicht über alle Informationen verfügen, die für eine Entscheidung notwendig wären. Dies ist in der Praxis der Regelfall. Gemeinsame Werte und deren organisationsweite Verinnerlichung verschaffen deshalb Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil und sichern das Überleben. Es gibt mindestens drei fundamentale Gründe für Organisationen, die die gezielte Entwicklung ihrer Werte notwendig machen: • Nachhaltigkeit spielt für Kunden und Kundinnen sowie Bewerbende eine zentrale Rolle. Wertehaltige, von den Mitarbeitenden verinnerlichte Haltungen sind dadurch Trümpfe in der heutigen Wertegesellschaft. • Viele Prozesse erfordern durch die digitale Transformation immer mehr selbstorganisiertes Handeln der Mitarbeitenden. Deshalb werden zunehmend Werte benötigt, die ihnen Antrieb und Orientierung geben. • Die Mitarbeitenden haben zunehmend mit neuen, unvorhersehbaren Entwicklungen zu tun. Erst Werte ermöglichen ein Handeln unter Unsicherheit. Sie überbrücken oder ersetzen fehlendes Wissen, die eigenverantwortliche Entscheidungen erfordern. Wie werden Werte erfasst? Voraussetzung für die gezielte Werteentwicklung ist eine professionelle Werteerfassung, auf deren Basis die Menschen, Teams oder Organisationen ihre Werteziele selbst definieren können. Es gibt riesige Listen von Wertebegriffen, Hunderte von Ausdrücken, die menschliche Werte umfassen. Für das gezielte Wertemanagement ist es deshalb notwendig, ein überschaubares Wertemodell zu entwickeln, mit dem die Antriebe und Ordner des kompetenten Handelns identifiziert werden können. Auf Basis der Werteforschung haben wir ein praktikables Wertemodell entwickelt. Unser Wertemodell „Valcom“ basiert auf unserer über zehnjährigen Erfahrung mit dem Wertemesssystem „Werde“ sowie auf den Items des hoch validierten Klages-Gensicke-Survey (Shell-Studien). Aus der Werteforschung haben wir vier Basiswerte, die Wertearten, abgeleitet, die wie folgt beschrieben werden: • Genusswerte bringen Mitarbeitende dazu, Handlungen zu bevorzugen, die ihnen – physischen oder geistigen – Genuss verschaffen. • Nutzenwerte lassen Mitarbeitende Handlungen bevorzugen, die ihnen selbst Nutzen versprechen. • Ethisch-moralische Werte legen Mitarbeitenden Handlungen nahe, die das Wohl vieler oder aller Menschen ohne Ansehen der Person zum Handlungsanliegen machen. • Sozial-weltanschauliche Werte bewegen Einzelne, Teams oder Organisationen zu einem sozial akzeptierten, rechtskonformen und innovativen Handeln. Jeder Basiswert wird in vier Einzelwerte untergliedert, sodass ein praktikables Wertemodell entsteht. Es wird im Regelfall für jeden einzelnen Wert mit jeweils vier beispielhaften Werteausprägungen, die in einem gemeinsamen Prozess mit
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