wirtschaft + weiterbildung 06_2022 27 Wie bekommen Sie Ihre Mitarbeitenden dazu, „in die U-Bahn einzusteigen“ und sich weiterzubilden? Allein über das Bedrohungsszenario, dass das aktuelle Jobprofil bald überflüssig wird? Linde: In gewisser Weise ist Bedrohung immer ein Anreiz, sich zu verändern. Das muss man einfach sagen. Das Liebste wäre mir, dass sich die Mitarbeitenden nicht der Bedrohung wegen für eine Re- qualifizierung entscheiden, sondern ein- fach aus Lust, nochmal etwas Neues zu machen. Das wird nicht immer der Fall sein. Aber ich glaube, die Perspektive ist das Entscheidende. Wir geben über unsere „Zielbahnhöfe“klare Routen vor, um in dem U-Bahn-Bild zu bleiben: Wenn du diese Qualifizierungsroute nimmst, dann hast du diese Position und hier deinen Arbeitsplatz. Es ist wichtig, dass die Beschäftigen ihr Ziel kennen. Notwendig ist zudem, Menschen dabei zu unterstüt- zen. Es ist nicht immer einfach, nochmal etwas ganz Neues zu lernen, und es braucht auch Angebote wie „das Lernen lernen“. Spielt auf diesen Plattformen auch das „Social Learning“ schon eine Rolle? Können Mitarbeitende dort ihr Wissen teilen? Linde: Wir haben Kanäle, die ähnlich wie Social Media aufgebaut sind, auf die jeder etwas hochladen kann. Auf den Bil- dungsplattformen geht das aber nicht. Dort müssen wir Sorge dafür tragen, dass die Inhalte von den Fachbereichen freigegeben werden. Im Augenblick kuratieren wir diese Bildungsshops mit Expertinnen und Experten und versuchen, Communitys für verschiedene Themenschwerpunkte einzurichten. Was wir noch aufbauen müssen, ist ein Netzwerk. Technologie und Wissen wechseln so rasch. Da brauchen wir ein Netzwerk aus all den klugen Köpfen, die sich auf einzelne Themen spezialisiert haben. Nur so können wir immer den neuesten Stand und die Essenz herausdestillieren, die es zu vermitteln gilt. Darum ist Netzwerk- und Community-Lernen ein riesiges Thema für die Zukunft. Sie scheinen für die Transformation von Bildung und Lernen zu brennen. Würden Sie sagen, dass Sie ein unkonventioneller Personalentwickler sind? Linde: Ich glaube auf jeden Fall, dass die Disruption uns mehr abverlangt, als weiterzumachen wie bisher. Mir macht es großen Spaß, Neues auszuprobieren. Und ich überschreite gerne die Komfortgrenze, auch meine eigene. Ich bin überzeugt, dass in diesem Grenzgebiet viel zu gewinnen ist. Meine Mitarbeiter denken sicher manchmal: „Jetzt hat er schon wieder eine neue Idee. Das ist ja unerträglich.“ Und es stimmt manchmal auch. Nicht alle Ideen funktionieren. Aber man muss viele Ideen produzieren, damit ein paar Realität werden. Wer als Führungskraft der Disruption begegnen will, kann nicht immer versuchen, die Erwartungen aller zu erfüllen. Eine Institution zu führen, bedeutet auch, aus dem Umfeld des Alltäglichen herauszutreten und Neues zu versuchen. Der Bildungssektor ist hier ein Schlüsselsektor. Bildung spielt für die Transformation von Gesellschaft und Unternehmen eine so unglaublich große Rolle wie noch nie zuvor. Dieser Aufgabe und Verantwortung müssen wir uns bewusst sein. Manches klingt schöner, als es andere empfinden. Es ist harte Arbeit, und in vielem sind wir noch nicht so weit, wie wir sein wollen. Ich brenne aber dafür, dass wir das neu anfassen. Bildung muss aus ihrem aktuellen Aktionsrahmen treten. Experimente und der Mut dazu werden dringend gebraucht. Wenn etwas nicht klappt, dann lernen wir daraus. Eine Transformation ohne Risiko gibt es nicht. Um diesen Mut zu generieren, braucht es eine Vertrauensbasis im Unternehmen mit einer offenen Fehlerkultur. Was tun Sie ganz konkret, auch als Kulturverantwortlicher von VW, um die Unternehmenskultur entsprechend zu entwickeln? Linde: Wir habe zum Beispiel vor drei Jahren ein „Role Model Program“ etabliert, durch das Führungskräfte Aktivitäten zur Reduzierung der Machtdistanz im Unternehmen und der Veränderung der Zusammenarbeit umsetzen. Jede Führungskraft der Volkswagen AG – das sind 21.000 weltweit – muss mindestens zwei Maßnahmen pro Jahr umsetzen. Wir stellen dafür einen Katalog mit Vorschlägen für Maßnahmen zur Verfügung. Eine heißt etwa „Book your Boss“. Das mache ich seit ein paar Jahren selbst regelmäßig. Jede und jeder in meiner Organisation kann mich für eine Stunde mieten. Ich muss in dieser Stunde zuhören und die Mitarbeitenden zu ganz verschiedenen Themen oder Problemen begleiten. Eine weitere Maßnahme ist zum Beispiel das „Shadowing“. Wer das wählt, muss einen jungen neuen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin für zwei Wochen bei sich „mitlaufen“ lassen. Das Wichtigste dabei: Die jungen Leute geben täglich Feedback. Oft finden sie unverständlich, was wir den ganzen Tag machen. Für uns ist das spannend, weil es uns zum Nachdenken bringt. Julia Senner und Kristina Enderle da Silva Öffnung 24/7. Die 42 Wolfsburg ist für Studierende immer geöffnet und bietet viele Räumlichkeiten. Foto: 42 Wolfsburg
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