Wirtschaft und Weiterbildung 1/2021
wirtschaft + weiterbildung 01_2021 33 Menschen besitzen. Personaler sollten je- denfalls Folgendes beachten: • Durch persönliche Begegnungen, bei denen das eigene Milieu verlassen wird, lernt man die Wirklichkeit besser kennen. Wobei es gar nicht so einfach ist, außerhalb der eigenen Komfortzone in einer Weise anzudocken, die zum Dialog führt. • Man braucht offene und ehrliche Freunde, die einem nicht nach dem Mund reden, sondern Klartext spre- chen, wenn man dabei ist, sich zu ver- rennen. Die katholische Kirche kennt den Fürsprecher (Advocatus Dei) und den Gegenredner (Advocatus Diaboli). Die zweite Rolle können auch wohlge- sonnene Kollegen oder externe Dienst- leister wie ein Coach wahrnehmen. • Es gilt, regelmäßige unbequeme Me- dien zu sichten. In den sozialen Me- dien bekomme ich meist nur Meinun- gen zugespielt, die ich ohnehin bereits habe. • Man versuche bewusst, die Ziele und Denke, die Interessen und Logiken des Gegenübers einzunehmen („put oneself in someone‘s shoes“). Was nicht bloß Empathie und Sympathie erfordert, sondern mehr noch die Fä- higkeit, den eigenen Bezugsrahmen zu weiten (also die Fähigkeit zum Refra- ming), steigert. • Durch moralische Abrüstung und den Verzicht auf Empörungsreflexe kommt man ebenfalls weiter. Die normative Entwaffnung erfordert, eigene Bei- träge nicht ethisch aufzuladen und die der Gegenseite nicht abzuwerten. Eine nüchterne Betrachtung kennt auch der klassische Journalismus, bei dem streng zwischen Information (tat sachenbezogen) und Kommentar (mei- nungsbezogen) getrennt wird. • Empfehlenswert ist zudem der Verzicht auf Emotion und Drama (oder zumin- dest deren zurückhaltende Instrumen- talisierung) beim konstruktiven Dialog. Beides – Emotionen und Dramen – zei- gen das wirkliche Leben, besonders mit bewegten und bewegenden Bildern. Sie deuten aber oft auch auf eine argumen- tative Schwäche hin. • Man sollte auch nicht zu oft vor einer „Spaltung“ warnen. Nicht bei jedem Ringen um eine Entscheidung droht ein Riss durch die Organisation. Diskussio- nen können durchaus heftig sein, ohne dass gleich der ganze Laden auseinan- derfällt. Oder wie Reinhard Sprenger in seinem jüngsten Buch schreibt: „Der Konflikt ist die Lösung.“ • Letztlich sollte man sich von „dunk- len Akteuren“ abgrenzen, wobei es im Alltag schwer ist, solche Linien zu ziehen. Aber in allen Kommunikations- systemen gibt es die Möglichkeit zur Abschottung: Türe zu, das Telefonat beenden, die „Entfreundung“ im Netz. Denn Ambiguitätstoleranz heißt nicht, jedem „Vollpfosten“ mit Wohlwollen zu begegnen. Mit Hegel gesprochen heißt das: „So einen Menschen muss man stehen lassen.“ Dies alles kostet Zeit, viel Zeit. Zu viel Zeit im schnellen Wirtschaftsleben? Jeder muss sich überlegen, was es ihr oder ihm wert ist, nicht voreilig urteilend unter- wegs zu sein, also mehrspurig zu wer- den, statt eingleisig zu bleiben. Dass die Aufklärung nicht kostenlos zu haben ist, sondern erhebliche Anstrengungen von uns allen braucht, hat bereits Jürgen Ha- bermas betont. Die Manager im Business berücksichti- gen bei ihren Entscheidungen nicht nur die People-Story samt der Employee Ex- perience, sondern auch – meist sogar stärker – die Interessen der Kunden und der Eigner - was man alles andere als an- stößig finden sollte. Im Fußball zählt ja auch nicht nur das schöne Spiel, sondern es zählen die Tore. Im Business kommt es nicht bloß auf die gute Stimmung an, sondern auf profitables Wachstum, das größer als beim Wettbewerber sein sollte. Jeder Personaler eines Unternehmens hat das Recht, sich auf das People-Thema zu versteifen. Er kann dank Meinungsfrei- heit sogar alle fremden Perspektiven mit Zorn und Eifer schlechtmachen. Dann sollte ihn aber ein Absturz wie der von Ikarus nicht überraschen. Martin Claßen Buchtipp. Martin Claßen ist auch Autor des Buchs: „Span- nungsfelder im Change Management: Veränderungen situativ gestalten“ (Handelsblatt Fachmedien, Düsseldorf 2019, 216 Seiten, 39,00 Euro). Je länger sich Claßen mit Change-Projekten befasste, desto klarer wurde ihm, dass es nie „die eine Wahrheit“ gibt, sondern dass situativ immer der „richtige“ Weg gefunden werden muss. Dieser „richtige“ Weg findet sich, wenn man die jeweiligen Extrempositionen einer Fragestellung indi- viduell gegeneinander abwägt. Wenn es zum Beispiel um die Frage geht „Soll man eine Transformation einheitlich über die gesamte Organisation angehen oder doch besser maßgeschneidert über einzelne Unternehmensbereiche?“, dann ist die Antwort: „Es kommt darauf an!“. Das richtige Vorgehen hängt eben vom jeweiligen Kontext ab. Sein Buch „Spannungsfelder“ nimmt die 15 wichtigsten Zielkonflikte unter die Lupe, die bei Change-Prozessen eine wesentliche Rolle spielen. Zwei fiktive Experten stellen dem Leser die beiden extremen Pole des jeweiligen Span- nungsfelds vor und begründen die eindeutigen Positionen (einerseits und andererseits). Anhand von praxisorientier- ten Leitfragen können die Leser daraus das beste Vorge- hen für ihre jeweilige Situation bestimmen. Martin Pichler Den Wandel analysieren
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