Wirtschaft und Weiterbildung 1/2021
personal- und organisationsentwicklung 32 wirtschaft + weiterbildung 01_2021 Bogen um die spleenigen Personaler mit ihrem drolligen Pathos machten. Natürlich zieht besonders die Erzeugung eines schönen Lebens – erfüllt mit Sinn und Glück. Bekenntnis- und Glaubens- gemeinschaften machen ein starkes An- gebot: das dem materiellen Bling-Bling überlegene Bezugssystem, in dem es keine egoistischen Interessen mehr gibt, das Konkurrenzgebaren vom Gemein- wohl abgelöst wird und das positive Men- schenbild jedes „neoliberale“ Gebaren übertrumpft. Übrigens: Mitunter reicht es schon, immer wieder dasselbe zu hören („Eliten sind out“), um fest daran zu glauben („mere exposure effect“). In der HR-Szene und in den sie bedienen- den Medien wird die People-Story laut- stark verbreitet. Die Storyline folgt einem dreistufigen Muster: 1. Im Business läuft immer mehr falsch. 2. Unsere Welt ist doch anders und wir Menschen brauchen eigentlich etwas Besseres. 3. Es ist längst klar, wie es richtig geht. Mit solchen Verlockungen hat sich die People-Story zu einem attraktiven Markt entwickelt, auf dem sich viele hilfsbereite Dienstleister tummeln: als Consultant, Trainer und Coach, Speaker und Autor – und neuerdings auch als Blogger und Podcaster. Denn wo eine Nachfrage zum Vorschein kommt, entstehen sofort nette Angebote. Gerade die junge Generation dürstet danach. Mittlerweile ist in der HR- Szene ein bunter Mix an Geschäftsmo- dellen entstanden, deren Wertschöpfung nicht auf die Unternehmen und deren Bilanzen zielt, sondern auf einige we- nige Mitarbeiter, die sich auf Kosten ihrer Firma verwirklichen. Und wie in jeder Szene gibt es Stars (und Loser), graue Eminenzen (und Möchtegerns), einen schicken Habitus (und Geschmacksver- irrung), mitreißende Insights (und ärger- lichen Bullshit), heißen Kult (und Un- zeitgemäßes), das große Spektakel (und fade Events), subtile Codes (und viel Copy-and-paste), einen Inner Circle (und Outlaws), Initiationsriten (und auch Lieb- lingsfeinde) sowie inzestuöse Beziehun- gen in der Ingroup zum wechselseitigen Nutzen. Die People-Story begibt sich in eine Stei- gerungsspirale, die – mit viel Dünkel – ständig höhere Ziele für Achtsamkeit, Wertschätzung und Sinnstiftung setzt. Sämtliche Verfechter dieses Narrativs laufen Gefahr, bei jedem auch noch so berechtigten Gegenargument mit herab- lassendem Blick wegzusehen. Eine Stu- die hat unlängst gezeigt, dass Überlegen- heitsgefühle mit dem wachsenden Gefühl der Erleuchtung einhergehen. Wer an etwas glaubt oder sogar ein Bekenntnis abgibt, fühlt sich tonangebend (und alle Ungläubigen als rückständig). Individuelle Wertschätzung vs. Ökonomische Wertschöpfung Damit ist keinesfalls gesagt, das Business habe mehr recht oder sogar immer recht. Aber es ist meist in der Position zu ent- scheiden. Bei dieser Entscheidung ach- ten Leader, zumindest die abwägenden, mehr auf eine gesamthafte Nützlichkeit als auf den Volltreffer für Partikularinte ressen. Und sie möchten, besonders wenn ihre anfänglichen Überlegungen gedreht werden sollen, überzeugt wer- den. Was das Business nicht möchte ist, mit moralinsauren Argumenten bedrängt oder als Ewiggestrige geschmäht zu wer- den. Dann nämlich mauern Manager. Um dies zu vermeiden, sind PE/OE-Bereiche gut beraten, wenn sie, ohne sich als Er- füllungsgehilfe anzubiedern oder den Mächtigen hinterherzulaufen, als Sender auf die Empfänger im Business eingehen. Mit einer im Kern von der People-Story getragenen Begründung wird dies miss- lingen. Besonders wenn die individuelle Wertschätzung weit über die ökonomi- sche Wertschöpfung gestellt wird. Und noch mehr, falls ein überheblicher Zun- genschlag zu spüren ist oder gar das nor- mative Primat inszeniert wird. Arroganz macht niemand zum klugen Ratgeber. Derzeit verstärkt sich, so mein Eindruck, vielerorts die Neigung des Busi- ness, PE/OE-Themen am Personalbereich vorbeizulotsen („out of HR“). Diese für jeden Personalbereich nicht hinnehmbare Tendenz lässt sich wohl nur abwenden, wenn die einseitige Übertreibung der People-Story und die Steigerungsspirale in businessferne Gefilde wieder auf ein für die Akteure in den Fachbereichen er- trägliches Maß zurückgeschraubt wird. Zur Abwägung bei Entscheidungen ge- hört die ausgewogene Wahrnehmung un- serer diversen Welt und der zahlreichen Stakeholder mit ihren unterschiedlichen Zielen und Interessen: Vom Business her gedacht, für die Menschen gemacht. Üb- rigens gilt, dass externe HR-Berater oft clever genug sind und allzu einseitige Personalbereiche überspringen und direkt die Geschäftsführung als Buying Center ansprechen. Noch ein Nachsatz: Manche Personaler tönen sehr laut mit der People- Story, extern auf Konferenzen und Xing beziehungsweise Linkedin. Sie gelten in der HR-Szene als anschlussfähig und er- zeugen dort eine beträchtliche Resonanz. Intern kriegen sie den Mund nicht auf – nämlich dort, wo es um die Big Points bei Entscheidungen geht. Wenn es wie im Profifußball einen Videobeweis gäbe, könnte einigen Szenestars in Zeitlupe gezeigt werden, welchen Unsinn sie ver- zapfen. Den Absturz aus zu großer Höhe vermeiden Um in der Vuca-Welt zu bestehen, emp- fehle nicht nur ich die Ambiguitätstole- ranz. Dies ist ein großes Wort, schwierig zu schreiben und im Alltag schwer um- zusetzen, besonders in Situationen, in denen es für einen selbst um viel geht. Zunächst also einmal tief Luft holen, bevor Sie abheben, und dann zur Räson kommen. Wie gesagt, leichter verlangt als gemacht, da Meinungen und Vorurteile doch zum Kostbarsten gehören, was wir R Martin Claßen ist Diplom-Kauf- mann und Diplom- Politologe und lei- tete bei Capgemini die Abteilung „People Consulting“. Seit 2010 ist er selbstständiger Solo-Bera- ter für HR- und Business-Projekte. Er ist Autor von vier Büchern und lebt sein Credo „Reflexion & Balance“. Martin Claßen Johann-Jakob-Fechter-Weg 10 D-79117 Freiburg i. Br. Tel. 0761 4562468 www.people-consulting.de AUTOR
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