Wirtschaft und Weiterbildung 1/2021

R wirtschaft + weiterbildung 01_2021 31 Das zur Positionierung und für Marke- tingzwecke gewählte Motto wird zur Gewissheit hochstilisiert. Egal ob gerade Krise oder Boom ist, in Konzernen oder Kleinstfirmen, für Dienstleister oder Pro- duzenten, in Start-ups oder Traditions- betrieben, in Dresden oder Düsseldorf, für jedwede Situation werden pauschale Sätze formuliert. Beispiel: „Ohne breite Partizipation läuft nichts mehr, Hierarchie war die Welt von gestern. Was wir unbe- dingt brauchen, ist die kollektive Intelli- genz der Leute.“ Daran ist nichts falsch – außer dem „unbedingt“. Jeder kennt bestimmt auch Situationen, in denen das pauschale Zutrauen in die Schwarmintel- ligenz nicht die beste Lösung bringt. „Glaubensgemeinschaften“ blenden Argumente aus In der HR-Szene gibt es Bekenntnisge- meinschaften, die sektenähnlich or- ganisiert sind, spirituell-mythische Er- zählmuster anwenden und oft sogar Erlösungsfantasien oder sogar Verschwö- rungstheorien anhängen. Die Vorstufe dazu sind Glaubensgemeinschaften, in der sich Gleichgesinnte mit ihren Über- zeugungen verstärken, gegenteilige Auf- fassungen ausblenden und eine sich selbst genügende Parallelwelt bilden. In der medialen Moderne wird dies als „Echokammer“ bezeichnet. Aber Obacht: In unserer aufgeklärten Ge- sellschaft gelten das Argument, also die Kraft stichhaltiger Gründe, und der kon- struktive Dialog, wenn diese Argumente vorgebracht, abgewogen und verhandelt werden, als eine gute Sache. Dann kann es passieren, dass einseitige Argumente als zu leicht empfunden werden. Oder die Entscheider wenden sich von den Protagonisten engstirniger Positionen ab. Falls jemand einer Glaubensgemein- schaft angehört, so fest, dass nicht mehr vernünftig diskutiert werden kann, bleibt eigentlich nur die Abgrenzung. Versuche, den festen Glauben oder gar unerschüt- terlicher Bekenntnisse mit gegenläufigen Argumenten abzuwägen, unterliegen stets dem Kosten-Nutzen-Kalkül. Ich zumindest überlege es mir nicht drei- mal, einem Ideologen nachzulaufen, der nichts außer der eigenen Lehre verstehen will. Warum auch sollten Sie sich jeder Polarisierung und Banalisierung stellen? Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was verfassungsrechtlich durch die Mei- nungsfreiheit gedeckt ist, und dem, was den konstruktiven Dialog voranbringt. Meine Empfehlung: Schauen Sie auf die breite Entscheidungsarena, nicht bloß auf deren Ränder, und versuchen dort ein tragfähiges Übergewicht zu erzielen. Glaubenssätze der HR-Szene wie etwa „hundertprozentige Humanität“, „volls- tes Vertrauen“, „emotionale Sicherheit“ oder „I love mindfulness“ stehen für starke Überzeugungen und sind populäre Haltungen, mit denen in den sozialen Me- dien gepunktet wird. Mir sind solche Pos- tulate zu einseitig. Sie wägen nicht mehr ab – nicht das Spannungsfeld, in dem jedes dieser Statements steht, und nicht die jeweilige Situation, für die eine Lö- sung zu finden ist. Zudem werden andere Werte und Ziele missachtet, die nicht we- niger wert sind, nur weil sie einem an- deren Mindset entspringen. Wenn ein erfahrener Businessman, der auch an die Kunden und Eigner denkt, von einer Glaubensgemeinschaft nicht mehr gehört wird, ist dies von den PE/OE‘lern einfach nur „scheuklappig“. Unsere Debatten­ kultur mit ihrem Widerstreit der vielen guten Gründe, die aber niemals einstim- mig werden, ist ein hohes Gut. Es gehört zum Spiel der Argumente, dass man sich nicht immer durchsetzt. Es gibt Spannungsfelder in Hülle und Fülle Bei jedem Transformationsprozess kann man zahlreiche Spannungsfelder be- obachten: Ein Wandelvorhaben kann disruptiv oder evolutionär sein, wert- schöpfend oder wertschätzend, mecha- nisch oder systemisch und so weiter. In meinem Dilemma-Fundus gibt es mittler- weile sehr viele weitere Zielkonflikte und Zwickmühlen: Zukunft versus Herkunft, Gesellschaft versus Gemeinschaft, Ord- nung versus Freiheit, Kooperation ver- sus Autarkie, Allmacht oder Ohnmacht. Spannungsfelder sind eine einfache und seit Urzeiten bekannte Denkfigur: Es gibt zwei extreme Pole und viel Spielraum dazwischen. In den meisten Fällen emp- fiehlt es sich, nicht auf einen der beiden Gegensätze zu pochen, sondern einen klugen Mittelweg zu wählen, mit dem (fast) alle leben können. Nur falls spezi- elle, extreme Umstände vorliegen, wäre dann auch einmal „entweder/oder“ zu sagen. In der Regel bringt die vernünf- tige Abwägung im Sinne eines „sowohl/ als auch“ die besseren Entscheidungen. Übrigens riet Dädalus seinem Sohn Ikarus nicht nur davon ab, hoch zu fliegen, son- dern warnte auch vor dem Tiefflug, weil dort die Feuchte des Meeres schädlich für seine Flügel sei. Für jeden der beiden Pole bei den oben genannten und weiteren Spannungsfel- dern fallen mir jeweils renommierte Ver- fechter ein. Die einen sagen linksrum, die anderen rechtsrum. Stets mit Argumen- ten, die auf den ersten Blick überzeugen, und die bei allen, welche sich der jeweils inneren Logik anschließen, gar nicht den Gedanken aufkommen lassen, auch etwas anderes könnte vernünftig sein. Die Alternative ist ein differenzierender Blick, der Spannungsfelder bedenkt, abwägt und – was am schwierigsten ist – aus- hält. Neigt ein Mensch stattdessen stän- dig einem der beiden Pole zu, ohne den Gegenpol mit dessen Argumenten einzu- beziehen, wächst die Gefahr, erfolgskriti- sche Aspekte auszublenden. Falls ein sol- cher Mensch auf seiner höchst einseitigen Position verharrt, aus welchen Motiven auch immer, steigt er hinauf ins Univer- sum, das bekanntlich sauerstoffarm ist. Einige wenige schaffen es immerhin, sich mit ihren Höhenflügen zum Guru ihrer „Friends & Follower“ aufzuschwingen. Zu viele leben auf einer Insel des Wohlgefallens Schon länger frage ich mich: Ist es wirk- lich so, dass nicht wenige PE/OE-Be- reiche (im festen Glauben darauf, der Mensch sei Mittelpunkt) in einer selbstge- fälligen Blase agieren? Es ist ein Narrativ mit wohlklingenden Floskeln entstanden, nach dem recht viele Personaler glauben, sie seien zeitgemäßer, fortschrittlicher und verheißungsvoller - oder sogar bes- ser, weil sie sich von einem humanisti- schen Ethos leiten lassen, nicht als ferne Utopie, sondern als einzig mögliche Zu- kunft? Dies wäre ein Selbstbild, auf das klassische Manager zunächst verwirrt re- agieren würden und dann einen großen

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