Wirtschaft und Weiterbildung 2/2021

training und coaching 46 wirtschaft + weiterbildung 02_2021 Ausgangssituation, wegen der ich bei der Winzergenossenschaft ins Spiel kam, war folgende: Die täglichen Mengen in der Abfüllung schwankten wie ein Betrunke­ ner beim Weinfest. Es ging also nur um ein betriebliches Problem? Doll: Diese Schwankungen machten es für das Unternehmen schwierig, zu planen und Liefertermine einzuhalten. Zudem bedeuteten sie, wenn man trotz­ dem die Kunden verlässlich bedienen will, für die Mitarbeiter in der Abfüllung oft Überstunden. Auch für den Einkauf, die Logistik und Kellerwirtschaft resul­ tierte hieraus Mehrarbeit. Also letztlich Stress bei allen Beteiligten? Doll: Ja, und das Blödeste an einer sol­ chen Situation ist: Selbst wenn alles trotz­ dem auf der letzten Rille klappt, sind alle Beteiligten frustriert, weil sie denken: „Muss dieser Stress denn immer sein? Der ist doch völlig überflüssig“. Das heißt, niemand ist auf das Geleistete stolz. Das zu ändern, war sozusagen mein erster Auftrag. Und wie lief das Projekt dann ab? Doll: Bei solchen Projekten frage ich in der Regel zunächst die Beteiligten, was aus ihrer Sicht gut, was weniger gut und was schlecht läuft: Nicht einzeln, sondern zusammen. Sie achten also darauf, wie die Menschen miteinander umgehen? Doll: Ja. Ich höre mir an, was die Leute sagen und nehme auch wahr, was unaus­ gesprochen bleibt. Anhand der Inhalte und der Art, wie sie in diesem Kontext miteinander umgehen, entwickle ich The­ sen, wie es im Betriebsalltag zugeht und konfrontiere die Beteiligten mit ihnen. Außerdem frage ich sie, was wer aus ihrer Sicht anders machen sollte, welche Maß­ nahmen wichtig wären, um die Zusam­ menarbeit und Abläufe zu verbessern. Ich sorge also dafür, dass das, was im Alltag gedacht, aber selten offen ausgesprochen wird, für alle hörbar und nachvollziehbar artikuliert wird. Das klingt simpel ... Doll: Ist es auch, zumindest am Anfang. Als Berater müssen sie aber auch wissen, was sie tun, wenn ihnen Beteiligte zum Beispiel erklären, dass sie selbst stets alles richtig machen, also quasi Heilige sind, die anderen aber große Probleme verursachen. Dann müssen sie ihnen die uncharmante Botschaft nahebringen, dass Teamarbeit auch heißt: Jeder hat nicht nur am Erfolg, sondern auch Miss­ erfolg seinen Anteil. Und im weiteren Ver­ lauf müssen sie die Leute dazu bringen, dass jeder mit Konsequenz und Nach­ druck genau an diesen seinen Anteilen arbeitet und dabei auch die Perspektiven der anderen wahr- und ernst nimmt. Das klingt schon schwieriger ... Doll: Ist es auch, aber nicht unmöglich. Das Erfolgsrezept ist eine Mischung aus geschicktem Handwerk, Empathie und Training. Wäre da eine Methode wie zum Beispiel „Agilität“ nicht einfacher? Doll: Dieser Modebegriff beschreibt keine Methode, sondern ein Entwicklungsziel. Und dem damit verbundenen Heilsver­ sprechen stehe ich eher skeptisch gegen­ über. Solche Heilslehren bauen meist auf der Grundannahme auf, dass die Mitglie­ der einer Organisation bisher alles falsch gemacht haben und sich alles über Nacht zum Positiven wendet, wenn diese dies einsehen und ihren Mindset ändern. Das zeugt von einer geringen Wertschätzung gegenüber der bisherigen Leistung der Mitarbeiter und führt auch deshalb letzt­ lich zum Scheitern vieler Veränderungs­ prozesse. Haben Sie hierfür ein Beispiel? Doll: Ja. In den neunziger Jahren wurden zum Beispiel die „teilautonome Gruppen­ arbeit“ als der Lösungsweg propagiert. Die Grundidee dahinter, dass die Mitar­ beiter mehr Verantwortung übernehmen, war und ist auch heute noch richtig. Trotzdem scheiterten viele Projekte zu ihrer Einführung. Unter anderem weil keine realistische Einführung der teilau­ tonomen Gruppenarbeit stattfand. Das heißt? Doll: Die wesentliche Arbeit ist es in der Regel nicht, solche Methoden und die damit verbundenen Ziele den Menschen so zu erklären, dass diese sie verstehen. Das erschließt sich meist dem gesunden Menschenverstand. Der Knackpunkt ist die Umsetzung im Betriebsalltag. Wenn es zum Beispiel darum geht, dass jeder zunächst vor seiner eigenen Tür kehren sollte statt stets auf die bösen Anderen zu verweisen, dann wird es schwierig, denn dann beschäftigt man sich mit dem eige­ nen Verhalten im Hier und Jetzt und nicht in einer fernen, agilen Zukunft. Was braucht es für eine nachhaltige Veränderung? Doll: Zunächst einmal eine hohe Wert­ schätzung für die Menschen, ihre Erfah­ R Gerhard Brauer. Er ist Chef von 86 Winzern, die 400 Hektar Rebflä- che bearbeiten

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