Wirtschaft und Weiterbildung 2/2021
personal- und organisationsentwicklung 30 wirtschaft + weiterbildung 02_2021 Solche schleichenden Prozesse, die in vielen Unternehmen abzusehen sind, können auf Dauer fatale Konsequenzen haben, denn es gilt folgendes zu beden- ken: Wenn die Unternehmen kurz-, mit- tel- oder langfristig einen Kurswechsel vollziehen oder gar einen Sanierungspro- zess durchlaufen müssen, sind sie laut Prof. Dr. Kraus auf die aktive Unterstüt- zung zumindest durch ihre Kernmann- schaft angewiesen, „denn alleine schafft das Management in der Regel den Turn around nicht“. „Führungskräfte sind nur solange Füh- rungskräfte, wie ihnen Mitarbeiter fol- gen“, ergänzt denn auch der Leadership- Experte Joachim Simon. „Folgen ihnen keine Mitarbeiter mehr, sind sie auch keine Führungskräfte mehr, sondern schlicht wirkungslos und somit verzicht- bar.“ Deshalb fordert er gerade in Kri- sen- und Marktumbruchzeiten wie in den aktuellen Krisenmonaten von allen Füh- rungskräften top-down, mehr Zeit in das Führen ihrer Mitarbeiter zu investieren, selbst wenn sie aufgrund ihrer Aufgaben- flut das Gefühl haben: Ich habe Wichti- geres und Dringlicheres zu tun. Dann sollten sie – gegebenenfalls mit einem Coach – ihre aktuelle Prioritätensetzung überdenken. Führung bedeutet dabei nicht nur, den Mitarbeitern eine Perspektive zu vermit- teln und ihnen zu sagen, was es zu tun gilt. Wichtig ist es laut Cornelia Mast auch, den Mitarbeitern darzulegen, warum man in der aktuellen Situation als Führungskraft zum Teil selbst nervöser, gereizter, scheinbar aktionistischer als gewohnt reagiert. „Aus dem Verstehen des Vorgesetzten erwächst Verständnis und hieraus wiederum Vertrauen“. Eben- falls zur Führungsaufgabe zählt der Ver- such, nicht nur sich selbst immer wieder bewusst zu machen, sondern es auch den Mitarbeitern zu vermitteln, in wel- chen Dilemmata oder Zwickmühlen die oberste Unternehmensführung steckt. Ge- meint ist der Versuch, „den Horizont der Mitarbeiter zu weiten“, so dass diese die unternehmerische Perspektive verstehen könnten, ergänzt die Unternehmensbera- terin. Durch symbolische Handlun- gen Vertrauen schaffen Der Versuch, Verständnis zu bewirken, gelingt jedoch nur, wenn das Top-Ma- nagement zumindest durch symbolische Handlungen den Mitarbeitern signalisiert „Ihr seid uns wichtig“ und „Wir versu- chen eine Balance zwischen den Interes- sen der verschiedenen Stakeholdern zu wahren“, betont Organisationsberater Doll. Solche symbolischen Handlungen kön- nen sein: • Der Vorstand oder die Geschäftsführung stellt sich einmal pro Woche in einem Video-Call den Fragen aller Mitarbeiter – auch derjenigen in Kurzarbeit.“ • Der Vorstand verzichtet auf einen Teil seines Gehalts zugunsten von Mitarbei- tern, die coronabedingt in eine finanzi- elle Schieflage geraten sind. „Oder der Vorstand schaltet zur Minde- rung der Infektionsgefahr seinen Aufzug, solange die Pandemie andauert, für alle Mitarbeiter frei“, fügt Doll lachend hinzu. „Mit etwas Phantasie und gutem Willen lassen sich viele solcher symbolischen Handlungen finden.“ Solche Handlungen und viel Zeit zum Führen der Mitarbeiter sind auch wich- tig, weil sich im Zuge der Coronapande- mie viele neue Konfliktlinien in den Un- ternehmen auftun werden, an die heute noch niemand denkt. Solche Konfliktli- nien werden derzeit am besten beschrie- ben mit Fragen wie: „Warum dürfen ge- wisse Mitarbeitergruppen bereits wieder normal arbeiten, während andere noch mit den entsprechenden Gehaltseinbußen in Kurzarbeit sind?“ und „Warum müssen zum Beispiel die Produktionsmitarbeiter täglich zur Schicht erscheinen, während ihre Vorgesetzten aus Infektionsschutz- gründen im Homeoffice arbeiten?“ Solche Dinge gilt es, den Mitarbeitern zu erklä- ren. Eine weitere Konfliktlinie wird in naher Zukunft an dem Punkt entstehen, dass sich irgendwann, wenn viele Büromitar- beiter einen großer Teil ihrer Arbeitszeit dauerhaft im Homeoffice verbringen, die Unternehmen fragen: Braucht unter diesen Voraussetzungen noch jeder Mit- arbeiter ein eigenes Büro oder seinen persönlichen Schreibtisch? „Rational be- trachtet nicht“, antwortet Prof. Dr. Kraus, fügt dann aber sogleich hinzu: „Spätes- tens wenn der eventuelle Verzicht auf sol- che ‚Besitztümer‘ und ‚Statussymbole‘ in den Unternehmen auf der Tagesordnung steht, gewinnt das Thema ‚New Work‘, über das aktuell oft noch völlig naiv de- battiert wird, eine ganz neue Dynamik.“ Dann tun sich nicht nur neue Konflikte auf, sondern stellen sich auch Fragen wie: „Wie wirkt es sich auf die Identifi- kation der Mitarbeiter mit dem Unterneh- men aus, wenn sie in ihm keinen persön- lichen Platz mehr haben?“ Mit solchen Fragen und den hieraus ent- stehenden Konflikten werden sich die Führungskräfte top-down künftig ver- mehrt herumschlagen müssen. Davon sind alle befragten Berater felsenfest überzeugt, da Corona die Arbeitswelt nachhaltig verändert. Deshalb sollten die Unternehmen erwägen, den mittleren Ma- nagern bei Bedarf einen Coach zur Seite zu stellen, der mit ihnen Strategien für ihre Reaktion auf bestimmte Herausfor- derungen im Bereich Mitarbeiterführung entwirft und ihr Verhalten mit ihnen sorg- fältig reflektiert. Zudem sollten laut Joachim Simon firmenintern mehr Foren geschaffen werden, auf denen sich Führungskräfte über die Ist-Situation und die aktuellen Herausforderungen im Führungsbereich austauschen können. „Dies ist auch nötig, um ein gewisses Alignment zu ge- währleisten – also dafür zu sorgen, dass die Führungskräfte sich im Betriebs- und Führungsalltag bei der Mitarbeiterfüh- rung und -kommunikation von weitge- hend denselben Zielsetzungen und (Ver- haltens-)Maximen leiten lassen.“ Denn sonst praktiziert irgendwann jede Füh- rungskraft ihren eigenen Führungsstil. Bernhard Kuntz R „ Schwächt es das Wir-Gefühl in einer Organisation, wenn das Führen auf Distanz von der Ausnahme zum Regelzustand wird?“
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