Wirtschaft und Weiterbildung 4/2021

grundls grundgesetz Boris Grundl 56 wirtschaft + weiterbildung 04_2021 Menschen können durchaus hervorragend im Homeoffice arbeiten. Aber: Die Gefahr der Ablen- kung ist größer. Führungskräfte fürchten, durch feh- lende Präsenz den direkten Zugriff zu verlieren und dass weniger persönliches Zusammensein die Iden- tifikation mit dem Arbeitgeber reduzieren könnte. Der große Fehler bei solchen Debatten: Kommt eine neue Idee um die Ecke, wird sie als „Heiliger Gral“ verehrt. Die Politik fordert sogar ein „Recht auf Homeoffice“. Bei etwas Neuartigem wie New Work, Agilität oder Graswurzelbewegung (die gibt es wirk- lich!) setzt unser Gehirn aus. Die Gier nach guten Gefühlen vernebelt unser klares Denken und wir verlieben uns ins Neue, die vermeintliche Lösung aller Probleme. Nach Hermann Hesse wohnt jedem Anfang ein Zauber inne. Durch die hohe Anfangsbegeisterung werden Modewellen überhöht. Erwartung und Ent- zücken überwiegen. Nach kurzer Praxiserfahrung folgt die Ernüchterung. Der heilige Gral mutiert zum nervigen Buzzword. In der praktischen Umsetzung wird der neue Ansatz über altes Denken drüberge- bügelt. Doch die alten Schläuche sind zu verbraucht für den neuen Wein. Dennoch haben die Ansätze meistens einen wertvollen Kern – der jedoch jen- seits jeder Anfangseuphorie liegt. Die Substanz hin- ter der Oberfläche erkennen wir nur, wenn wir mit klarem Geist nachdenken. Was ist die Substanz hinter dem Homeoffice? Als Erstes hilft es zu verstehen, dass Homeoffice ein Werkzeug ist wie ein Laptop, ein Besprechungszim- mer oder ein Flipchart. Bei Werkzeugen kommt es auf die Kompetenz der Person an, die es verwendet. Sicher, die Qualität des Werkzeugs kann die Arbeit erleichtern. Doch zu denken, dass ein Tool die Kom- petenz des Anwenders auf allen Ebenen erhöht, ist lächerlich. Es ist unglaublich, wie oft sich dieses lähmende Muster in der Weiterbildung wiederfindet. Deswegen sollten wir uns fragen, welcher Kompe- tenz es bedarf, damit mobiles Arbeiten zur tatsäch- lichen Wertschöpfung beiträgt. Die notwendige Kompetenz lässt sich mit Selbst- funktionalität beschreiben. Das Wort kommt anfangs sperrig daher. Doch es drückt präzise aus, um was es geht. Es beschreibt das Level an Selbst- verantwortung, mit dem ein Mensch sein Wirken in ein Team einbringt. Es geht darum, sich auf einem dauerhaft hohen Niveau selbst zu führen, den Fokus zu halten, sich auf das Wesentliche zu kon- zentrieren und sich nicht ablenken zu lassen. Jetzt wissen Sie, warum viele Modewellen in der Praxis scheitern. Neues trifft auf altes Denken, eine neue App trifft auf ein altes Betriebssystem. Deswegen ist Selbstfunktionalität für die Zukunft so wichtig. Mit ihr wären Agilität oder Graswurzelbe- wegung sehr leicht umsetzbar. Doch wie viele Per- sonen von 100 können sich auf so hohem Niveau selbst führen? Wer das Problem erkennt, weiß, dass Führung so lange notwendig ist, bis ein Mensch ein gewisses Niveau an Selbstfunktionalität erreicht hat. Danach wird Führung anders. Dann können wir mit hoher Produktivität zusammenarbei- ten, dann wird Agilität oder New Work in der Praxis umsetzbar und mobiles Arbeiten wertschöpfend. Bisher verschließen wir uns durch Oberflächlichkeit dem wertvollen Kern dieser neuen Ideen. Wir surfen von Modewelle zu Modewelle. Und wachsen dabei geistig nicht wirklich. Bitte sorgen Sie dafür, dass das in Ihrem Einflussbereich anders ist. Paragraf 94 Fördere Selbstfunktionalität! Boris Grundl ist Managementtrainer und Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Er gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung). Sein jüngstes Buch heißt „Verstehen heißt nicht einverstanden sein“ (Econ Verlag, Oktober 2017). Boris Grundl zeigt, wie wir uns von oberflächlichem Schwarz-Weiß-Denken verabschieden. Wie wir lernen, klug hinzuhören, differenzierter zu bewerten, die Perspektiven zu wechseln und unsere Sicht zu erweitern. www.borisgrundl.de Das Wort Selbstfunktionalität kommt anfangs sperrig daher. Doch es drückt präzise aus, um was es künftig geht. „ „

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