Wirtschaft und Weiterbildung 4/2021
wirtschaft + weiterbildung 04_2021 25 „Mit Rezepten kann man gut verkaufen, aber nicht beraten“ Was hat Sie dazu gebracht, Ihrem Buch den doch etwas rätselhaften Titel „Entscheidungen ohne Grund“ zu geben? Klaus Eidenschink: Rätselhaft trifft es genau. Organisa- tionen sind kultivierte Rätsel. Sie sind wie Glaskugeln, in denen jeder etwas anderes für die Zukunft herauslesen kann. Unser Titel rückt in den Fokus, dass Organisationen nicht auf dem festen Boden von vermeintlichen Fakten ste- hen, sondern andere Formen finden müssen, die Legitima- tion von Entscheidungen zu gewährleisten und ihre Zukunft passend zu gestalten. Wie kam es zu ausgerechnet neun (!) Leitprozessen der Organisationsdynamik? Ulrich Merkes: Die Zahl Neun ist eine Setzung. Sie ent- stand aus der Verdichtung der Arbeit vieler Kollegen. Der- zeit finden wir schlicht keine Dimensionen mehr, die sich nicht in diesen Leitprozessen abbilden lassen. Aber viel- leicht ändert sich das ja noch, wenn wir überzeugende Hin- weise finden. Wer mit diesen neun Foki auf Organisationen schaut, kann ein umfassendes Bild von deren Dynamik gewinnen und wie die Probleme erzeugt werden, von denen der Kunde oder der Mitarbeiter weg will. Kann man die Polaritäten, die Sie beschreiben, nicht durch Synthesen auflösen? Zum Beispiel indem man „außenorientiert“ ist – aber nur so stark, um die Prozesse „innen“ zu optimieren! Frei nach dem Motto: These-Antithese-Synthese … Eidenschink: Dies eben genau nicht. Mit einer Synthese wäre erneut die Idee einer übergeordneten Vernunft – Hegel nannte dies Weltgeist – im Spiel. Unsere Botschaft ist, dass es darum geht, unvermeidliche Spannungen und Polaritäten als Führungskraft und Berater zu akzeptieren und zu nutzen, statt zu versuchen, sie aufzulösen. Interview. Mit den Organisationsberatern Klaus Eidenschink und Ulrich Merkes sprachen wir über ihr aktuelles Buch „Entscheidungen ohne Grund“ und darüber, wie man sich als Berater ein umfassendes Bild von den Dynamiken in einem Unternehmen machen kann. Unter welchen Bedingungen wäre es besser, einfach zu würfeln, um eine Entscheidung zwischen zwei Alterna- tiven zu treffen? Oft zeigt sich erst in der Zukunft und dann aus purem Zufall, ob eine Entscheidung, die vor ein oder zwei Jahren getroffen wurde, „richtig“ war. Merkes: Eigentlich immer! Spaß beiseite – die Frage ist berechtigt. Wenn die Verhältnisse komplex sind, gibt es immer mehr als eine richtige Lösung. Komplexität sorgt für überraschende Wendungen und Effekte. Deshalb muss man nicht gleich würfeln. Bescheidenheit und Achtsamkeit für alle Folgen (nicht nur die erwünschten) helfen schon sehr. Die Bereitschaft, Entscheidungen zu überprüfen und zu revidieren mindestens genauso. Können Sie uns „die“ wichtigste persönliche Kompetenz nennen, die Berater brauchen, um auf der Basis des Metatheorie-Ansatzes gut arbeiten zu können? Eidenschink: Gewahrsein. Ohne ein umfassendes Wahr- nehmungsvermögen, das auch subtile Phänomene erken- nen und nutzen kann, sind alle anderen denkbaren Kom- petenzen beeinträchtigt und teilblind. Das Wechselspiel zwischen Handeln, Denken un Wahrnehmung ist nicht so leicht zu erlernen. Allzu schnell sucht man nach Rezepten und Handlungswei- sen, mit denen sich gut Angebote und Change-Konzepte formulieren lassen. Das ist gut, um zu verkaufen, weniger hilfreich, um zu beraten. Da kommt es eben immer anders und unverhoffter, als man gedacht hat. Wer dann an dem Konzept hängt und nicht auf die Situation reagiert, wie sie sich in der Organisation entwickelt hat, der versucht, die Organisation nach seinem Bilde zu gestalten. Das geht immer schief. Organisationen lassen sich nicht designen, sondern man kann als Berater wie als Mitglied nur achtsam in diesem sozialen System „surfen“. Interview: Martin Pichler daraus Nutzen für den professionellen Organisationsberateralltag zu ziehen. Ge- rade der Blick auf die Kontextabhängig- keit und Zeitlichkeit von Organisationen und deren Entscheidungszwängen dürfte die Leser künftig davor bewahren, vor- eilig unpassende Interventionen zu star- ten. Die beiden Autoren treten mit ihrem Buch neben Stefan Kühl, Fritz B. Simon und Rudolf Wimmer in die Reihe derer, die Luhmanns Systemtheorie für Berater „übersetzt“ und in verständlicher Sprache zugänglich gemacht haben. Der Zugang zum Werk des großen Bielefelder Sozio- logen ist bekanntermaßen zeitraubend und mühsam. Die Leitunterscheidungen der Metatheorie bieten darüber hinaus ein (Interventions-)Modell, das der realen Komplexität in einer Welt voller offener Möglichkeiten sehr nahekommen dürfte. Martin Pichler
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