Wirtschaft und Weiterbildung 4/2021

24 wirtschaft + weiterbildung 04_2021 titelthema Luhmann forderte von einer Theorie zur Dynamik von Organisationen, dass sie eine Sachdimension (Problemlösungen), eine Sozialdimension (Zusammenarbeit und Führung) und eine Zeitdimension (Zukunftsgestaltung) haben müsse. Auch benannte Luhmann zentrale, stabilitäts- erzeugende Entscheidungsmuster – die sogenannten Entscheidungsprämissen. Die „Metatheorie der Veränderung“ ent- wickelt Luhmanns Konzept weiter: Neun „Leitunterscheidungen der Organisations- dynamik“ differenzieren den Steuerungs- und Handlungsbedarf von Organisatio- nen. Sie verdichten die Analyse diverser Organisationstheorien und erlauben es dem Berater, Entscheidungsmuster zu be- obachten und Organisationen wertfrei zu beschreiben. Die neun Leitprozesse de- cken auf, wo Organisationen mit unauf- löslichen Polaritäten und daher mit dem Zwang zu kontextsensitiven Entschei- dungen konfrontiert sind. Innerhalb der Leitunterscheidungen gibt es keine nur „richtigen“ Entscheidungen mehr. Bezo- gen auf die „zeitliche Dimension“ heißen die ersten drei Leitunterscheidungen: 1. Vergangenheitsbehandlung: Organisa- tionen müssen entscheiden, ob sie etwas Bestimmtes verändern wollen oder ob es bleiben soll, wie es ist. Weder kann alles so bleiben, wie es ist, noch kann man jeden Tag alles neu machen. Die entspre- chenden Pole heißen „Bewahrend“ ver- sus „Lernend“. 2. Gegenwartsbehandlung: Organisati- onen müssen entscheiden, ob sie eine Regel anwenden oder situativ entschei- den. Dienst nach Vorschrift bringt alles zum Erliegen. Alles nur situativ zu re- geln, erzeugt zu wenig Koordination und Verlässlichkeit. Die Pole heißen „Regelge- recht“ versus „Situationsgerecht“. 3. Zukunftsbehandlung: Organisationen müssen entscheiden, ob man abwartet, um zu sehen, wie die Zukunft wird, oder ob man die Initiative ergreift, um aktiv die Zukunft zu gestalten. Die Pole heißen „Risikonehmend“ versus „Gefahrentra- gend“. Bezogen auf die „sachliche Dimension“ gibt es weitere drei Leitunterscheidungen: 4. Vernetzung: Organisationen müssen entscheiden, welche Entscheidungen sie strukturell miteinander verknüpfen und welche sie voneinander entkoppeln, um ihre Leistungen erbringen zu können. Wer zum Beispiel zentralisiert, hat mit anderen Fragen zu kämpfen als die, die sich für Dezentralisierung entscheiden. Die Pole heißen „Verknüpfend“ versus „Entkoppelnd“. 5. Entscheidungsorientierung: Organisati- onen müssen entscheiden, ob und wo sie sich sachlich am Außen (etwa den Kun- den oder den Mitarbeitenden) orientieren oder sich vom Innen (etwa den produkti- onstechnischen Optimierungen oder den Erfindungen der Entwicklung leiten las- sen. Die Pole heißen: „Außenorientiert“ versus „Innenorientiert“. 6. Qualitätsfokus: Organisationen müssen entscheiden, ob sie darauf setzen, in ihrer Entscheidungsqualität bei der Leistungs- erbringung gründlich oder schnell vorzu- gehen. Wer gründlich vorgeht, kann nicht der oder die Schnellste sein, wer schnell ist, muss mit mehr Fehlern und Einzel- kosten leben. Die Pole heißen „Gründ- lich“ versus „Schnell“. Bezogen auf die „soziale Dimension“ ent- standen die letzten drei Leitunterschei- dungen: 7. Sozialkomplexität: Organisationen müssen entscheiden, wo sie im Hinblick auf die organisationalen Kommunikati- onsprozesse mit Kontrolle operieren und wo sie mit Vertrauen arbeiten. Nur Kont- rolle würde alle überlasten, nur Vertrauen würde die Organisation auf Dauer blind machen. Die Pole heißen „Vertrauend“ versus „Kontrollierend“. 8. Entscheider: Organisationen müssen entscheiden, welche ihrer Mitglieder sie an Entscheidungen beteiligen und welche sie davon ausschließen. Zu viele zu betei- ligen kostet zu viele Ressourcen der Betei- ligten, zu wenige zu beteiligen produziert Abstimmungsfehler und den Widerstand der Betroffenen. Die Pole heißen „Beteili- gend“ versus „Ausschließend“. 9. Personal: Organisationen müssen ent- scheiden, ob sie ein bestimmtes Mitglied für eine spezifische Stelle als passend ansehen oder ob jemand unpassend (ge- worden) ist. Würden alle an der gleichen Stelle bleiben, dürften sich weder Mitglie- der noch Anforderungen ändern, würden alle ständig wechseln, dürften die An- forderungen der Stellen nicht sehr hoch sein. Die Pole heißen „Passend“ versus „Unpassend“. Der Schwerpunkt des Buchs „Entschei- dungen ohne Grund“ besteht darin, dass die neun Leitprozesse der Metatheorie auf über 70 Seiten ausführlich vorgestellt und ihre immensen Wechselwirkungen angedeutet werden. Gestartet wird je- weils mit der hautnahen Beschreibung einer Situation, hinter der ein „echter“ Kunde steckt. Anschließend liefern die Autoren Erklärungen, die den Dynami- ken in modernen Organisationen gerecht werden und helfen, sie zu verstehen. An- stelle von rezepthaften Formeln bieten Klaus Eidenschink und Ulrich Merkes Ideen für beraterische Interventionen, die selbst komplexen und schwer steu- erbaren Veränderungsvorhaben zum Erfolg verhelfen können. Die Texte sind so nachvollziehbar geschrieben, dass es für Praktiker kein Problem sein sollte, die eigenen Erfahrungen den jeweiligen Leitunterscheidungen zuzuordnen und R Buchtipp. Klaus Eidenschink, Ulrich Mer- kes: „Entscheidungen ohne Grund“, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021, 114 Seiten, 15,00 Euro Ulrich Merkes. Er ist seit 2007 selbständig mit den Schwerpunkten Organisations- und Teamentwicklung, Change Management und Führungskräfte-Coaching.

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